: Die Stadt – das zu große Kleid
aus Schwedt und Duisburg JOHANNES GERNERT und ADRIENNE WOLTERSDORF
„Duisburg wird bald das erleben, was Halle oder Schwedt längst hinter sich haben“, ist man sich in der Brandenburger Staatskanzlei sicher. „Ach was“, kontern die Duisburger Stadtentwickler, „wir haben das Problem seit 30 Jahren.“ „Das Problem“ sind alternde Menschen, leere Häuser, stillgelegte Betriebe und vertrocknende Wasserleitungen. Kurz, wie ein zu groß geratener Mantel hängt die Stadt um ihre weniger werdenden Einwohner. Und sowohl Schwedt im östlichen Brandenburg als auch Duisburg im westlichen Ruhrgebiet versuchen, den Mantel anzupassen.
Schon im Duisburger Bahnhof wird klar, worum es in dieser Stadt geht: Maloche. In den Schaufenstern der Bahnhofspassage werden zwischen Blumen und Pralinen auch Werkzeuge und Elektrokabel präsentiert. Duisburgs Einwohner kamen einst der Arbeit wegen, die Zechen und Stahlkochereien von Thyssen bestimmten, wo gewohnt und wo gebuddelt wurde. Die Launen der Weltwirtschaft taten das Übrige.
Heute wird das Nebeneinander von Aufstieg und Fall ganzer Stadtteile immer wahnwitziger. Im Duisburger Norden, am Bruckhausener Materna-Tunnel, wo wegen der gammeligen Schlotkulisse schon Szenen eines Schimanski gedreht wurden, trennt nur eine Werksmauer das Morgen vom Gestern. Während auf dem riesigen Betriebsgelände der Thyssen Krupp AG der Stahlboom an den Werkbänken Chinas die Schornsteine qualmen lässt, sitzen auf der anderen Seite der Mauer stille Männer am Tresen der Kneipe „Zur Industrie“. Es ist ein Werktag, doch kein Werk ruft diese Männer zur Arbeit. Ein paar Straßen weiter war einst der Hauptsitz von Thyssen. Doch Bruckhausen hat ausgedient. Auch für die zu Wohlstand gekommenen Arbeiterfamilien, sie haben den Stadtteil schon vor 20 Jahren verlassen, um sich in den besseren Vorstädten niederzulassen.
Geblieben sind Alte und Sozialhilfeempfänger, gekommen sind Menschen aus Anatolien. „Von den Sozialdaten her ist die Lage in Bruckhausen katastrophal, es ist der schlimmste Stadtteil Europas“, sagt Michael Fröhling. Als Sozialarbeiter und Manager des „Kulturbunkers“ versucht er, Deutsche und Türken für Kultur zu interessieren.
Knapp 70 Prozent der Einwohnenden sind Migranten und Eingebürgerte. Manch Großfamilie konnte sich eines der heruntergekommenen, billigen Backsteinhäuser leisten. Darin betreiben sie Döner-Bratereien, Lebensmittelhandel, Reisebüros und Hochzeitsgeschäfte. Duisburg ist ein Knotenpunkt türkischer Ökonomie im westlichen Ruhrgebiet. Um die Ecken der verrußten Häuser radeln kreischende Kinder, Frauen mit Kopftüchern gehen zur Moschee. Und Bruckhausen ist heute Duisburgs jüngster Stadtteil mit dem höchsten Anteil an Jugendlichen.
Das Einzige, was noch deutsch ist, ist der Schützenverein und die Bäckerei Wennekers, ein alter Familienbetrieb. Der Bäckermeister war mal weggezogen, in die südliche Vorstadt. Doch als ihn in seiner feinen neuen Nachbarschaft jemand bat, das dreckige Auto doch lieber in die Garage zu fahren, da kam der Meister zurück. Denn Bruckhausen ist trotz allem Heimat.
Das findet auch Stathi, ein junger HipHopper griechischer Abstammung. Gemeinsam mit Türken, Deutschen und der Chinesin Jojo aus einem nahe gelegenen Studentenwohnheim der Duisburger Uni bastelt er an der nächsten CD der Gruppe Poedra. Die ist im Ort der Hit, Stathi ein Star. „Weggehen? Nein, ich bin hier zu Hause, woanders würde ich mich nicht wohl fühlen“, sagt er. Nachmittags, wenn er keine Vorlesung hat, hilft er anderen Jungs und Mädchen am Mischpult oder bei den Matheaufgaben. „Es gibt hier keinen Ärger zwischen Türken, Griechen, Deutschen oder sonst wem.“
Die Insellage Bruckhausens, eingekeilt zwischen Hüttenwerken und der Autobahn, sei eine Chance, findet Michael Fröhling, der Sozialarbeiter. Trotz Leerstand, hoher Arbeitslosigkeit und Armut habe man rechtzeitig angefangen, miteinander zu reden. Seit 1998 besprechen Sozialarbeiter, die Vertreterin der städtischen Entwicklungsgesellschaft, Imame, Pfarrer und Priester alle Stadtteilinitiativen an einem runden Tisch. Wo muss ein Spielplatz hin, welches leer stehende Gebäude darf abgerissen werden? Diese Fragen werden diskutiert, so entsteht ein Gefühl der Gemeinschaft.
Das war mal anders. In den 90er-Jahren war Bruckhausen immer gut für eine Schlagzeile, „es gab hohe Kriminalität, Vandalismus, Rotlicht, Gewalt, das ganze Programm“, erzählt Edeltraud Klabuhn, die Leiterin des Stadtteilbüros. Heute ist es ruhig geworden, zahlreiche soziale Projekte, finanziert von Bund, Land und EU, zeigen ihre Wirkung. „Wir haben ein Bewusstsein geschaffen“, ist Klabuhn überzeugt, „dass man was tun kann.“ In Bruckhausen, so Klabuhn, habe Duisburg schon mal geübt: Wie geht man mit einer Stadt um, die sich rasant verändert – und noch dramatisch verändern wird? Den demografischen Wandel und die globalisierte Wirtschaft könne man nicht beeinflussen, sagen die Stadtplaner. Vorerst bleibt ihnen nur, leer stehende Gebäude abzureißen oder zu sanieren, Grünflächen zu schaffen und dabei zu helfen, dass es günstige Gewerbeimmobilien gibt. Aber Duisburg habe das Schlimmste schon hinter sich, glauben alle und hoffen, dass mit dem „Stadtumbau West“ hier nun ein lebenswerter Ort entsteht.
Knapp 600 Kilometer weiter im Osten, im brandenburgischen Schwedt, wird nach ebensolchen Lösungen gesucht. Da, wo die Stadt an der Oder einmal aufhören soll, steht wie ein Denkmal ein klobiger Plattenbauklotz und daneben thront ein wenig tiefer ein Bagger auf einem Haufen Schutt – ein ehemaliger Plattenbau. Es riecht nach Abriss. Staubig und betonfeucht. Hier beginnt der Stadtteil am Waldrand. In ein paar Jahren sollen hier wieder Bäume stehen. Schwedt hat vor gut fünf Jahren angefangen mit dem Abreißen. Schon kurz nach der Wende wurde den Stadtplanern klar, dass der Retortenstadt bald die Bewohner ausgehen würden. Die Plattenbauten waren in den Sechzigern zügig hochgezogen worden, Arbeiter siedelten sich um das Petrochemische Kombinat herum an. Als dort nach 1990 aus 8.000 Arbeitsplätzen 2.000 wurden, zogen viele weg. Vor vier Jahren besichtigte Kanzler Gerhard Schröder einen Tag den Leerstand. Danach wurden einige Milliarden in den „Stadtumbau Ost“ investiert.
Das Viertel am Waldrand hat zwei Gesichter. Auf der einen Straßenseite sind die Plattenklötze keine Klötze mehr. Manche hat man kleiner gemacht, andere renoviert und mit Farbe gestrichen. Die Fassaden strahlen in verschiedenen Gelbtönen, dazwischen ein bisschen Weiß oder Babyblau. Auf der anderen Straßenseite aber sind die Klötze noch Klötze. Sie sollen in den nächsten Jahren abgerissen werden. Grau und fleckig stehen sie da, kaum bewohnt, die Fenster sind eingeschlagen.
Christin Werth ist in einem von diesen Gebäuden zur Grundschule gegangen. Die 17-Jährige macht gerade ihren Abschluss und hat auch schon nach einer Lehrstelle gesucht. Ihre Bewerbungen allerdings hat sie bisher alle zurückbekommen. Nach der Schule wird sie nun ein Überbrückungsjahr machen und hofft, dass ihr das Arbeitsamt „einen Job an Land zieht“. Schwedt würde sie gern verlassen. „Du hast ja nüscht hier“, sagt sie. Außer die Disko „Orange“, wo sie abends tanzt, und ein paar Kneipen. In ihrem Haus sind noch zwei Mietparteien übrig. Bald wird es abgerissen. „Das ist schon deprimierend“, sagt Christin Werth. Eine neue Wohnung hat ihre Mutter noch nicht gefunden. Sie bekommt Arbeitslosengeld II. Damit kann man nicht in einen von den bunten Blöcken ziehen.
Rudolf Eggert ärgert sich, „dass sie ausgerechnet auf dieser Seite alles besenrein haben wollen“. Seine Frau schüttelt vorwurfsvoll den Kopf. Man hätte einfach „ab und zu einen Block rausnehmen können“. So wie auf der anderen Seite. Das Haus, in dem das Rentnerpaar wohnt, ist 2007 dran. Bis dahin müssen sie mit dem Auszug warten. Sonst gibt es kein Umzugsgeld.
Eggert packt die Einkäufe auf seinen Fahrradanhänger. Im Innenhof der Uckermark-Passagen ist Markt. Viele Rentnerpaare und ein paar junge Mütter kaufen ein. Das Einkaufszentrum liegt mitten im Viertel. Zu DDR-Zeiten gab es hier in der Gaststätte „Novo Plolotzk“ Schulspeisung. Und hier traf sich der Club der Chemiearbeiter. Jetzt gibt es einen Supermarkt, eine Drogerie und ein Billardcafé. Die Geschäfte kommen und gehen. Lang hält sich kaum eins, sagt Sigrid Eggert. In einem der Läden ist das Stadtteilbüro untergebracht. „Wir freuen uns über viele neue Ideen für Ihren Stadtteil“, steht auf einem Plakat im Fenster. Manchmal, erzählt Eggert, sitzen da ein paar ältere Damen drin und trinken Kaffee.
Der Frust, sagt Ingeborg Beer, sitze tief. Und das sei auch kaum verwunderlich nach fünf Jahren Abriss, in einem Stadtteil, in dem einmal 13.000 Leute gelebt haben, von denen jetzt noch 3.000 übrig sind. „Natürlich will jeder, dass sein Haus stehen bleibt.“ Beer hilft mit, die „Frustration zu minimieren“. Die Soziologin arbeitet für das Programm „soziale Stadt“ und unterstützt die Leute im Stadtteilbüro.
Vor allem das Vereinsleben soll gefördert werden. Es gibt einen Vergabebeirat aus Bewohnern, der Gelder verteilen kann, wenn Bürger Anträge stellen. Eine Sportgruppe bewirbt sich oft, die mit dem Geld regelmäßig Jugendliche zum Spielen einlädt. Kürzlich ist eine Betreuerin in einer Kindertagesstätte eingestellt worden. Und bald beginnt am Waldrand eine Festwoche. Da sollen Vereine sich vorstellen und über den Stadtumbau diskutiert werden. „Öffentliches Leben ermöglichen“, nennt Beer das, „die Leute rauslocken.“
Es gab mal eine Initiative, sagt Sigrid Eggert: „Pro Waldrand“. Der Apotheker hatte das wohl initiiert. Da wurden Unterschriften gegen den Abriss gesammelt. Den Bürgermeister habe das nicht interessiert. Den mögen sie deshalb nicht. Rudolf Eggert ist sich sicher, dass das Gebiet, wenn keine Platte mehr steht, gewinnbringend verkauft werden soll. Nichts mit Wald also.
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