: Aus der Luft gegriffen
WELT AUS RAUSCHEN Ein Klassiker der Medienkunst: Vierzig Jahre nach der Uraufführung machen John Cages „Variations VII“ im Radialsystem Station. Das Knabbern von Schnecken gehört zu den benutzten Klangquellen
VON TIM CASPAR BOEHME
John Cage war einer der radikalsten Erfinder der Musik des 20. Jahrhunderts. Dem buddhistisch inspirierten Ideal, Musik zu machen, indem man die Töne vom Korsett des rationalen Komponierens und von jeglichem Inhalt jenseits des bloßen Klangs befreit, strebte der amerikanische Komponist fast sein ganzes Leben nach. Cage arbeitete schon früh mit Zufallsoperationen, und Begriffe wie „Aleatorik“ und „Stille“ betrachtete er als entscheidende musikalische Parameter. Manche beurteilten seinen Beitrag zur Musikgeschichte als destruktiv. Das hielt ihn nicht davon ab, faszinierende Musik zu schreiben, wie die deutsche Erstaufführung seines multimedialen Werks „Variations VII“ am Freitag im Radialsystem eindrucksvoll demonstrierte.
Anfangs kommt einem alles höchst vertraut vor. Vier Männer stehen in der Mitte des Raums, um sie ein Quadrat aus Tischen, ähnlich einem Boxring, der sie vom Publikum trennt. Alles scheint wie bei einem ganz gewöhnlichen Konzert mit elektronischer Musik. Allerdings fallen einem neben Mischpulten und den unvermeidlichen Laptops eine Vielzahl von Radios, alten Haushaltsgeräten und eine Reihe Telefone auf. Die Geräusche im Raum lassen sich kaum zuordnen, in der einen oder anderen Ecke erkennt man Stimmen aus dem Radio, ansonsten rauscht und brummt und dröhnt es vor sich hin.
„Variations VII“ ist ein streng konzeptuelles Werk. Alle verwendeten Geräusche liegen während des Konzerts „in der Luft“ und werden nicht eigens von den Musikern generiert. Für die New Yorker Uraufführung im Jahr 1966 wurden zehn offene Telefonleitungen gelegt, um die Geräusche vom Hudson River, aus einem Hundezwinger oder dem Tanzstudio von Merce Cunningham in den Konzertsaal zu übertragen.
Werktreu und ungefiltert
Bei der Berliner Premiere, der dritten Produktion des Werks überhaupt, nutzte man moderne Möglichkeiten wie Mobiltelefone und Skype, um die Originalgeräusche aus einer Restaurantküche, einem fahrenden S-Bahn-Zug oder das Knabbern von Schnecken beim Abendessen in Echtzeit zu übertragen und sie zusammen mit den übrigen Klangquellen zu vermischen. Erfreulicherweise konnte man die Geräusche der einzelnen Telefonleitungen vor dem Konzert auf dem Terrassendeck des Radialsystems als Klanginstallation hören: Der Großteil von ihnen ging später im Dröhnen der insgesamt 64 Klangquellen unter.
Die Musikern widerstanden der Versuchung, weitere technische Spielereien ins Spiel zu bringen, und hielten sich streng an Cages Versuchsanordnung, bei der lediglich die Lautstärke der einzelnen Klangquellen verändert werden durfte. An den Reglern stand Atau Tanaka, ein japanischer John-Cage-Experte mit Vorliebe für bioelektronische Instrumente. Des Weiteren waren Mark Warren und Ben Ponton vom legendären britischen Industrial-Projekt Zoviet France sowie Matt Wand, eine Hälfte der nicht minder legendären Sampling-Pioniere Stock, Hausen and Walkman zugange. Sie alle blicken auf unterschiedlichste Erfahrungen mit Klangmanipulationen zurück, doch für dieses Stück agierten sie werktreu als Kollektiv, bei dem die ungefilterten Geräusche das Geschehen bestimmten.
Befreiend sinnlos
Mit seiner kruden Vermischung verschiedener Alltagsgeräusche hat Cages Werk etwas Altmodisches. Dass es dennoch frisch wirkt, hat mit seinem fast naiven Umgang mit Geräuschen zu tun. Cage wollte das Hören von sämtlichen Erwartungen und Vorurteilen befreien – für ein an Klanginstallationen und Ambientmusik aus field recordings gewöhntes Publikum könnte diese Ansicht wieder zur Entdeckung werden. Denn oft genug langweilen Künstler mit artig reflektierten Konzepten, die ihren formalen Ansätzen zu gesellschaftlicher Relevanz verhelfen sollen. Cages radikale Ansage, seine Kunst sei sinnlos, wirkt da verführerisch befreiend.
Die offene Form von Cages Komposition bot genügend Raum für Unvorhergesehenes – einschließlich Situationskomik. So begann der eine oder andere Mixer während des Stücks zu qualmen, weil irgendein Draht den Geist aufgegeben hatte. Mark Warren hatte immer wieder mit einem rabiaten Schwingschleifer zu kämpfen, und als ein fossiler Staubsauger neben ihm plötzlich eine heftige Wolke in den Raum blies, freute sich der ansonsten stoisch dreinblickende Musiker wie ein kleiner Junge. Der im Jahr 1992 verstorbene Cage hätte sich über diese Formen von „Unbestimmtheit“ gewiss ebenfalls gefreut.
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