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Ankunft im eigenen Land

„Archiv der Sehnsüchte“ heißt die hannoversche Bühnenfassung von Deniz Utlus Roman „Die Ungehaltenen“. Sie ist nicht ganz so bitterund ungehalten wie die Vorlage

Die Träume und Erfahrungen der ersten Migrantengeneration ragen ins Leben ihrer Kinder Foto: Katrin Ribbe/Staatstheater

Von Jens Fischer

Mal schlurft, mal schlendert, mal hockt er auf der Bühne als prima Empathieangebot und Musterbeispiel eines Vertreters der zweiten, dritten Generation türkischer Arbeitsmigranten: ­Elyas. Seine Identität findet er weder in der Kultur seines Geburtslandes Deutschland noch in der romantisch verklärten Heimat der Eltern – und auch nicht dazwischen. In Deniz Utlus Roman „Die Ungehaltenen“ (2014) war die Wut darüber der Motor seines Handelns.

In der Bühnenfassung „Archiv der Sehnsüchte“ treibt ihn nun im Staatsschauspiel Hannover eher die Angst, sich in der Orientierungslosigkeit zu verlieren: „Aus der Familie, aus dem Studium, aus dem Land, aus dem Leben, von einem Tag in den nächsten, in die Nacht, ins Nichts zu fallen und da ist nichts, was dich auffängt“, sagt er im leise weinenden Tonfall. Seine ratlos suchenden Blicke versteckt er hinter einer Sonnenbrille. Elyas wird nie richtig greifbar, weil er sich selbst nirgendwo verorten kann. Daher kommt erst mal ein gefühliges Lied über seine Lippen – wie noch viele erklingen und von einer sechsköpfigen Band in ein poprockiges Gewand gehüllt werden. Bestens passt dazu der freundlich-melancholische Regie-Duktus von Hakan Savaş Mican, der 2015 den Stoff schon am Berliner Gorki-Theater inszeniert hatte.

Faszinierend in Hannover ist, mit welch beiläufiger Konzen­tration sich Hauptdarsteller Cino Djavid eine facettenreiche Bühnenpräsenz erspielt und Elyas’Selbstsuche mit reflektiertem Schnodderjargon sowie herzlich bockigem Verhalten einen sympathisch genervten Ausdruck verleiht. Dabei immer jugendlich auf dem Sprung ist, sich in einer Idee, einem Gedanken, einer Situation, einer Stadt, einer menschlichen Begegnung zu finden. So verliebt er sich Hals über Kopf in die Anästhesistin Aylin (Yasmin Mowafek).

Auf einer Jubiläumsfeier des deutsch-türkischen Anwerbeabkommens begegnen sie einander. In parodistisch arg überdrehter Manier wird Aylin dort von einer dummdreisten deutschen Moderatorin mit diskriminierenden Klischees konfrontiert – und antwortet selbstbewusst. Auf den Klassiker „Sie können aber gut Deutsch“ beispielsweise mit: „Sie aber auch!“ Elyas gefällt das, spricht Aylin an und fordert eine fröhliche Partystimmung ein, schon wird im Discokugelgeglitzer ausgiebig gesungen.

Schauspiel „Archiv der Sehnsüchte“, Schauspielhaus Hannover, wieder am 9., 21. und 29. 11. sowie am 18. und 28. 12., jeweils 19.30 Uhr. Mit türkischen Übertiteln

Immer wieder stockt die eh schon minimalistische Handlung zugunsten liebevoller Stimmungshuberei. Auch sonst können sich die Dar­stel­le­r:in­nen keine emotional differenzierten Beziehungen erspielen, da nur Djavids Rolle hintergründig ausgearbeitet ist. Alle anderen, auch Aylin, sind nur Beispieltypen dafür dass sich mit dem Stückthema auch anders umgehen ließe: Der aus Deutschland abgeschobene Mustafa vermisst in der Türkei den Duft von Pommes, Hekim wartet daheim bei Muttern als Rapper auf seinen Durchbruch, züchtet in der Zwischenzeit Tauben und guckt mit Oma türkische TV-Serien. Was Elyas zu einem „Aber so ändert sich doch nichts!“-Ausbruch provoziert.

Nach und nach wird Elyas Herkunft skizziert. Die Mutter war Übersetzerin, viel mehr ist nicht über sie zu erfahren. Der Vater war Arbeiter bei Ford in Köln und 1973 Anführer eines wilden Streiks, weil türkische Ar­bei­te­r:in­nen schlechter als die deutschen Kol­le­g:in­nen entlohnt wurden. Die bekämpften die Streikenden. Cemo, ein Freund von Elyas’Vater, sorgt entsprechend für Rückblicke auf die kommunistischen Sehnsüchte progressiver Exilanten. Weitere Erinnerungen werden dem Stücktitel gemäß wachgerufen. Aylin und Elyas lassen amüsante und traurige Kindheitserlebnisse aufleben, reflektieren auch den Umgang mit rechtsradikalen Anschlägen und die NSU-Morde. Das Ensemble singt: „Für die Freiheit, für das Leben. Nazis von der Straße fegen.“

Faszinierend ist, wie beiläufig sich Cino Djavid eine facettenreiche Bühnenpräsenz erspielt

Als Elyas’ Vater stirbt, muss der Sohn dann doch mal kurz sein tobendes Innenleben in Baseballschläger-Attacken auf eine Autokarosserie übersetzen, will dann aber nur noch weg, zu Aylin, die sich inzwischen in Istanbul zu verwurzeln versucht. Leider nur angedeutet wird die Enttäuschung, dass die Erdoğan-Türkei nicht das Paradies auf Erden ist. Allein reist Elyas schließlich zum Grab seines Vaters am Schwarzen Meer. Versöhnlicher Abschied. Und nun? Das Jurastudium hat er geschmissen, Aylin als Freundin nicht gewonnen und die Elterngeneration mit ihren Werten stirbt weg. Beginnt jetzt das eigene Leben?

Nach vergeblichen Andockversuchen und Distanzierungen vorgelebter deutsch-türkischer Lebensverankerungen lässt die Aufführung zwar alle Fragen offen, entlässt aber mit wieder auflodernder Partystimmung als Gemeinschaftsbehauptung. Der herzliche Applaus deutet an, dass Elyas nicht mehr so fremd im eigenen Land, dort längst angekommen ist.

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