: Schmerzhafte Entschleunigung
Puppen, Figuren, Objekte, Lämpchen spielen die Hauptrollen beim Festival Theater der Dinge. Internationale Gruppen ließen bei der diesjährigen Ausgabe in der Schaubude und im Podewil Geister ihr Unwesen treiben
Von Katja Kollmann
Langsam schiebt sich ein Lichtkegel durch den stockdunklen Saal der Schaubude. Er gibt den Blick frei auf drei Riesenspinnennetze, die zwischen die Zuschauerreihen gespannt sind. Das Theater an der Greifswalder Straße ist während des Festivals Theater der Dinge zu einem „Geisterhaus“ mutiert. Bevor sich die kleine Theaterwandergruppe im Saal auf einer einsamen Bank niederlässt, war man in Garderoben und Garagen, temporären Bühnen mit Nahkontakt. Naoko Tanaka nimmt einen nun mit in einen imaginären Wald, in dem sich ein kleines Mädchen angstfrei verliert, bis es schließlich schlafend von der Waldflora überwuchert wird. Tanakas sinnliche Kohlezeichnungen verbinden sich auf der Leinwand zu einer bewegten Graphic Novel, symbiotisch begleitet von einem fokussierten, sparsamen Soundteppich. Vor dem inneren Auge wächst ein Wald mit all seinen Details heran, bis einen der Spot auf die Spinnennetze wieder in der Schaubude verortet.
Anfang November ist Theater-der-Dinge-Zeit. Das internationale Festival für zeitgenössisches Figuren- und Objekttheater hat seinen Mittelpunkt in der Schaubude. Da aber dieses Jahr filigrane Stoffgemälde den Saal okkupieren, werden die Gastspiele im Podewil gezeigt. „Geister“ treiben das Festival um und beschäftigen seine KünstlerInnen, sonst hat man das Festival-Motto verfehlt.
Im Theater Strahl am Ostkreuz lässt das katalanische Duo cabosanroque in seiner Installation „Dimonis“ (Deutsch: Dämonen) Wasser vibrieren sowie aufblasbare Schwimmtiere und anderes tanzen. Den Zitaten des katalanischen Literaten Jacint Verdaquer, der als Priester Ende des 19. Jahrhunderts an Teufelsaustreibungen beteiligt war, kann man sich nicht entziehen. Sie umkreisen das Publikum in Leuchtschrift vom Bühnenrand.
Durchwegs alle Produktionen, darunter Gastspiele aus Bulgarien, Ungarn und Norwegen, legen einen besonderen Fokus auf Lichtregie. „03:08:38 States of Emergency“ ragt heraus, weil es mit über dreistündiger Spielzeit die Figurentheater-Schallgrenze, was die Länge einer Vorstellung angeht, gnadenlos knackt. Licht ist hier Akteur in Form von Mikrolampen, die in dem Bühnenbild des Transiteatrets aus Bergen eine wichtige dramaturgische Rolle spielen. So zieht sich ein Zeitstrahl aus reiskorngroßen Bodenlampen durch die Holzkonstruktion. Tore Vagn Lid und seine KollegInnen gehen zurück zum 22. Juli 2011. Sie zeichnen den Weg des Rechtsextremisten Anders Breivik nach.
Jede Minute, die zwischen der Detonation der Bombe in einem Osloer Regierungsgebäude und seiner Festnahme vergeht, wird durch das Aufleuchten eines Lämpchens markiert. Das Team schiebt dessen Auto, ein federleichtes weißes Papierkonstrukt, mit einer Pinzette millimeterweise nach vorne, erzeugt Regen, stellt das Fahren durch Dörfer, die Autobahn und die Überfahrt auf die Insel Utøya mit einfachsten Mitteln dar. Eine kluge Kamera überträgt die Miniaturszenen auf die große Leinwand. Der „Soundtrack“ zum Bild sind die Radiosendungen des Tages.
Eine schmerzhafte retrospektive Entschleunigung entsteht, in die man so gerne eingreifen würde, um zu verhindern, was kommt: der Mord an 77 jungen Menschen. Gleichzeitig ist man fasziniert von den künstlerischen Mitteln, die dramaturgisch klug eingesetzt einen beständigen organischen Handlungsfluss erzeugen. Nötig ist dafür die extrem präzise Koordination des ganzen Teams.
Staunend steht man daneben, wenn die Miniaturszenen im fliegenden Wechsel auf- und abgebaut werden. Als es am 22. Juli 2011 endlich 17.34 Uhr geworden ist, hängen in der Alten Münze kleine an Büroklammern befestigte Papierboote von der Decke, die Insel ist ein Pappmascheeberg aus Notenblättern und Traktaten. Die Karte mit der live eingezeichneten Route des Mörders liegt immer noch auf dem Tisch.
Am letzten Festivalabend findet die Rekonstruktion von Vergangenheit in Pappkartons statt. Darya Yurchenko und Olena Hrabina (Ukraine/Deutschland) machen sich auf die imaginäre Suche nach der Wohnung ihrer Kindheit. Ein langer poetischer Moment entsteht, in dem die frühere Wohnungseinrichtung im Karton nachgestellt wird, lange Plastikvorhänge rauschen dazu leise. Später werden sich Hände und Kopf zu einem betörenden Schattenspiel zusammenfinden. Seit den Festivaltagen kenne ich auch meine Lieblingsgroßpuppe persönlich. Der nachdenkliche mittelalte Mann saß auf meinem Schoß, meine Hand war in seinem Kopf und wir haben uns lange in die Augen gesehen. Dann habe ich ihn umarmt.
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