Kliniken in der Ukraine: „Superhumans“ und „Unbroken“ im Einsatz für Schwerverletzte
Viele Soldaten haben schwere Kriegsverletzungen erlitten. In zwei Reha-Einrichtungen lernen sie, damit umzugehen. Aber dort gibt es nur wenige Plätze.
D ie Bässe aus einer Musikbox am Springbrunnen vor der Oper im Stadtzentrum von Lwiw dröhnen über den ganzen Platz. Eine Gruppe junger Frauen tanzt zu den Klängen der Musik. Aus der Oper strömen Menschen, die eine der unzähligen Ausstellungen besucht haben. Die Stimmung ist fröhlich.
Vor dem Rathaus sitzt Irina Kulinich, stellvertretende Bürgermeisterin der Stadt, auf einer Bank unter einer Linde in der vorabendlichen Sonne. Neben der Bank hängen unzählige Schlösser am Baum. Schlösser von Verliebten. „Ich hätte noch vor drei Jahren nicht geglaubt, dass ich mal hier auf dieser Bank in Ruhe werde sitzen können,“ beginnt Irina Kulinich das Gespräch. „Noch 2021 sind die Touristinnen buchstäblich Schlange gestanden, alle wollten sie einmal hier sitzen unter der Linde neben den Schlössern.“
Doch nun seien deutlich weniger Touristen in der Stadt und Lwiw sei nicht mehr das, was es mal gewesen sei, ergänzt sie. „Es mag sein, dass die Stadt auf den ersten Blick wirkt wie immer. Das Leben geht weiter. Aber hier gibt es keine Familie, die nicht irgendwie vom Krieg berührt worden ist“, sagt Irina.
Einige hätten ihre Verwandten an der Front verloren, andere wiederum kümmerten sich um ihre Verletzten. Wieder andere bangten um Angehörige, die in Gefangenschaft seien. „Gehen Sie nur mal auf das Marsfeld, den großen Friedhof. Nirgends sehen Sie so viele ukrainische Fahnen wie dort.“
Zwei Kliniken für Kriegsverletzte
Es sind vor allem zwei Krankenhäuser in Lwiw, in denen kriegsversehrte Soldaten behandelt werden: Die im April 2023 eröffnete Klinik „Superhumans“ und das im Juni 2022 eröffnete Zentrum „Unbroken“, das im Krankenhaus der First Lviv Territorial Medical Union St. Pantaleon angesiedelt ist.
Geduldig sitzen Männer auf einer Bank in der Lobby des Superhumans-Zentrums, trinken in Ruhe ihren Kaffee und beobachten die Tischtennisplatte. Auf dieser hüpft der Ball von der einen Seite auf die andere. Fast allen Männer in diesem Raum ist eines gemeinsam: sie haben nur noch ein Bein.
Eine Etage höher ist ein Bassin. Hier schwimmt ein Mann, der beide Beine verloren hat. Im hauseigenen Fitnessclub stemmt ein sportlicher junger Mann Gewichte. Sein rechtes Bein ist aus Titan.
Nebenan ein Saal, der an eine Turnhalle erinnert. Tatsächlich ist es ein Gehzentrum, aufgeregt steht ein junger Mann an einem Gehbarren. Ein Therapeut legt ihm ein Band um den Körper. Mit ganz langsamen Trippelschritten bewegt er sich vorwärts.
Beinprothesen sind Glücksache
Knapp einen Meter hinter ihm geht eine Frau. Sie lässt ihn nicht aus den Augen, beobachtet jede seiner Bewegungen. Würde er fallen, hätte sie genügend Zeit, um ihn festzuhalten. Er fällt aber nicht, er kämpft, müht sich den Barren entlang ganz bis zum Ende. Anschließend geht er die zehn Meter wieder zurück. Er lacht. Die ersten Schritte in seinem neuen Leben waren erfolgreich, darüber freut er sich.
Er kann sich noch aus einem anderen Grund glücklich schätzen. Denn er ist einer von wenigen Auserwählten, die in den Genuss einer Beinprothese kommen. Der Bedarf ist groß, aber die Möglichkeiten zu helfen sind gering. Über 40.000 Ukrainer brauchen Prothesen, schätzt Andrij Ischtschyk, Pressesprecher von Superhumans gegenüber der taz. Doch nur 70 Patienten pro Monat könne man in seiner Klinik behandeln. Aktuell habe man eine Warteliste von 2.000 Patienten.
Eines der Kriterien, nach denen entschieden wird, ob ein Mann in Superhumans aufgenommen wird, ist das Ergebnis eines Erstgespräches in der Klinik. Je höher die Erfolgsaussichten, umso wahrscheinlicher ist eine zeitnahe Aufnahme. Die Erfolgsaussichten hängen in hohen Maße von der Motivation eines Betreffenden ab.
Noch gut erinnere er sich an einen Mann, erzählt Ischtschyk, der in gerade einmal zwei Wochen habe „vertikalisiert“ werden können. Der Grund der schnellen Anpassung an die Beinprothese: seine Frau war schwanger und er hatte ihr versprochen, dass er das Kind stehend in seinem Arm halten werde. Dieser Fall, so Ischtschyk, zeige, wie wichtig die psychologische Begleitung der Patienten sei. Daher haben alle Patienten regelmäßig Therapie.
Wichtiges Ziel: gesellschaftliche Wiedereingliederung
Auf der Dachterrasse des Unbroken-Zentrums werden Yoga-Kurse angeboten, professionelle Berufsberater helfen den Patienten bei der Wiedereingliederung in die Gesellschaft. Ein lautes Hämmern, das man im ganzen Gang hören kann, kündigt einige Etagen tiefer eine Werkstatt an.
Das Hämmern kommt von Oxana Lekhniak, Spezialistin für die Herstellung von provisorischen Prothesen. „Ich fertige gerade eine solche Prothese an“, sagt sie und legt für einen Augenblick das Werkzeug zur Seite. „Das erste, was ich dafür mache, ist sorgfältig Maß zu nehmen. Jeder Fall ist einzigartig.“ Jede Prothese werde individuell angefertigt. Hierfür müsse man genau wissen, in welchem Zustand sich der Patient befinde und wie seine Amputation verlaufen sei. Erst wenn die provisorische Prothese angepasst und getestet worden sei, werde die endgültige Prothese angefertigt.
„Dies ist ein wichtiger Schritt auf dem Weg zur Wiederherstellung der Funktionsfähigkeit der Gliedmaßen. In unserer Werkstatt verfügen wir über einen 3D-Drucker, mit dem wir Stumpfprothesen aus Polypropylen drucken können. Dies vereinfacht den Herstellungsprozess erheblich und gewährleistet eine hohe Präzision, was sich positiv auf den Komfort und die Wirksamkeit der Prothesen auswirkt,“ so Oxana Lekhniak.
Hohe Zufriedenheit mit der Klinik
Mykola Petrenko (49) ist ein kleiner Bauunternehmer in der ukrainischen Hauptstadt Kyjiw. Der Vater eines 13- und eines 18-jährigen Sohnes hat aktuell elf Angestellte. Vor dem Krieg habe er noch 36 Angestellte gehabt, berichtet er. Doch dann wurde er 2024 in den Krieg einberufen. Am 19. Juni wurde er so schwer am linken Bein verletzt, dass es amputiert werden musste.
Bis Ende August habe er in Lwiw auf der Intensivstation der Klinik des Heiligen Lukas gelegen. Dann sei er zu Unbroken verlegt worden. „Wenn ich meine Zufriedenheit mit der Klinik Unbroken auf einer Skala von 1 bis 10 beschreiben müsste, würde ich der Klinik 10 Punkte geben“.
Seine Ansprechpartnerin sei Frau Dr. Wasiliewna. Wenn er irgendein Problem habe, sei sie sofort zur Stelle – je nachdem, was er brauche, gehe alles schnell. Die Versorgung sei sehr gut, die Behandlung hervorragend, das Personal und die Ärzte seien einfach wunderbar, erzählt er mit leuchtenden Augen.
Die angebotene psychologische Hilfe habe er nicht angenommen – er fühle sich stark genug. Auch die Beratung zur Wiedereingliederung in das Berufsleben brauche er nicht. Er werde wieder in sein Geschäft einsteigen, das er bei seiner Abreise in den Krieg seiner Frau übertragen habe. Und dort werde er das machen, was er auch früher gemacht hatte: Kundengespräche führen. Die Firma will er voranbringen, wenn er wieder in Kyjiw ist. Doch bis dahin wird es noch eine Weile dauern. Noch sei er bei Unbroken. Mykola hofft, im Oktober nach Hause gehen zu können.
Zur Ausbildung nach Deutschland
Während Unbroken ein Projekt der Stadt Lwiw ist, finanziert sich die Privatklinik Superhumans ausschließlich aus privaten Spenden. Sehr viel Unterstützung erhalten beide auch aus dem Ausland. Ein Partner von Superhumans und Unbroken ist der im deutschen Duderstadt ansässige Prothesenhersteller Ottobock.
In Deutschland gebe es 5.000 Prothesentechniker, berichtete der NDR. „Das ist eine Zahl, von der wir nur träumen können“ kommentiert Andrij Ischtschyk von Superhumans diese Information. In der Ukraine gebe es leider viel viel weniger Prothesentechniker“, erklärt er.
„In unserer Klinik Superhumans gibt es drei Prothesentechniker für die Hände und sieben für die Beine.“ Aktuell bessere sich jedoch die Situation, so Ischtschyk. „Die deutsche Firma Ottobock und viele andere Firmen im Ausland bilden ukrainische Prothesentechniker aus. Und seit kurzem bieten zwei Universitäten hier in Lwiw Lehrgänge für angehende Prothesentechniker an.“
In enger Kooperation mit internationalen Hilfsorganisationen wie dem Roten Kreuz und Malteser International hat Ottobock mobile Werkstattcontainer in Lwiw und Kyjiw sowie an Krankenhäuser angeschlossene Orthopädiewerkstätten in der Ukraine mit aufgebaut.
Chirurgen aus Frankreich
Ein weiterer Bereich des Superhumans-Zentrums ist die rekonstruktive Chirurgie. Dabei geht es um die Wiederherstellung des normalen Aussehens und der Funktion von Körperteilen. Bei „Superhumans“, in dessen Aufsichtsrat unter anderem auch Präsidentengattin Elena Selenska und Gesundheitsminister Wiktor Ljaschko sitzen, sind französische Ärzte im Rahmen der Zusammenarbeit zwischen den Gesundheitsministerien der Ukraine und Frankreichs auch vor Ort tätig. Die Franzosen, so Ischtschyk, kämen regelmäßig, sie untersuchten die Patienten und führen vor allem Gesichtsoperationen durch.
Irgendwann am späten Nachmittag verlässt ein Mann in Shorts hastig das Zentrum Unbroken. Er hat es eilig, will schnell zu seinem Taxi. Nur wenigen fällt auf, dass er ein künstliches Bein hat. Einfach ist es nicht mit der Barrierefreiheit in der Ukraine. Auf vielen Bahnhöfen gibt es weder Rolltreppen, Rollstühle noch Aufzüge. Doch die wachsende Zahl von Kriegsversehrten wird zu einem Umdenken in dieser Frage führen müssen.
Die Recherchen für diesen Beitrag wurden durch ein Programm der Europäischen Union ermöglicht.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Trumps Krieg gegen die Forschung
Bye-bye, Wissenschaftsfreiheit!
Kritik am Deutschen Ethikrat
Bisschen viel Gott
Menschenrechtsverletzungen durch Israel
„So kann man Terror nicht bekämpfen“
Ungelöstes Problem der Erneuerbaren
Ein November voller Dunkelflauten
Bürgergeld-Empfänger:innen erzählen
„Die Selbstzweifel sind gewachsen“
Altvordere sollen Linke retten
Hoffen auf die „Silberlocken“