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Den Finger in mehreren Wunden

Han Kang behandelt viele unbequeme Aspekte in Südkoreas Geschichte und Gesellschaft – trotzdem ist die Begeisterung über ihre Auszeichnung dort groß

Aus Seoul Fabian Kretschmer

Nicht nur für Han Kang kam der Nobelpreis unerwartet, auch Südkoreas Buchhandel war keineswegs darauf vorbereitet. Am Donnerstagabend brachen die Webseiten der führenden zwei Onlinehändler wegen des massiven Besucherandrangs kurzfristig zusammen. Beim ikonischen „Kyobo Book Centre“ am zentralen Gwanghwamun-Platz in Seoul waren auch sämtliche Werke der Autorin umgehend vergriffen, und die Mitarbeiter bemühten sich händeringend um Nachschub.

Die frohe Kunde hat das Land zwar unverhofft ereilt, doch die Euphorie war sofort allgegenwärtig zu spüren. Sämtliche Medien hatten die Nachricht als Aufmacherschlagzeilen auf ihren Onlineauftritten, und nicht selten schimmerte dabei auch eine gehörige Portion Patriotismus durch. Die linksgerichtete Hankyoreh etwa schrieb stolz davon, dass nun auch die großen internationalen Medien über den Sieg der südkoreanischen Autorin berichten würden. Und mit besonderer Genugtuung nahm die Öffentlichkeit zur Kenntnis, dass eben nicht die favorisierte Chinesin Can Xue gewann, sondern die heimische Autorin.

Dabei ist die 53-jährige Han Kang eine Frau der leisen Töne, die sich sicherlich nicht als Projektionsfläche für patriotischen Stolz eignet. Hans Sieg ist vor allem ein Gewinn für Südkoreas Frauen, denn ihr Werk zeigt wie kaum ein zweites die patriarchalen Schattenseiten der Gesellschaft auf. Wenig überraschend waren es vor allem junge Südkoreanerinnen, die am Donnerstagabend noch schnell vor Ladenschluss in die Buchläden eilten, um das Werk dieser Ausnahmeschriftstellerin neu für sich zu entdecken. Ihr populärstes Werk, das in ihrem Heimatland 2007 erschienene „Die Vegetarierin“, spiegelt das bedrückende Lebensgefühl vieler Frauen wieder, die sich in den hierarchischen und männerdominierten Strukturen entfremdet fühlen: Die Protagonistin Yeong-hye, eine zunächst unscheinbare Hausfrau, zieht mit ihrer Entscheidung, kein Fleisch mehr essen zu wollen, die Wut ihres Ehemannes und ihres Vaters auf sich – und erleidet schließlich wahnhafte Züge.

Als politische Aktivistin äußerte sich Han Kang nie, sondern ließ meist ihr literarisches Werk für sich sprechen

Doch Han Kang hat auch ein historisches Trauma der südkoreanischen Gesellschaft literarisch verewigt. Im 2014 in Südkorea erschienenen „Sonyeoni onda“ („Menschenwerk“) schreibt die Autorin vom blutigen Massaker an der Demokratiebewegung von Gwangju, ihrer Heimatstadt. Was sich in jener Zeit 1980 zutrug, erlebte die damals 10-jährige Han nur schemenhaft. Doch die Erinnerungen ließen sie nicht mehr los: Etwa als die Sicherheitspolizei damals an der Wohnungstür klopfte und die Eltern nervös reagierten. Oder als sie später im Bildband blätterte, das im Regal ihres Vaters stand – und das Foto eines jungen Mädchens entdeckte, dessen Gesicht vom Bajonett eines Soldaten entstellt worden war.

Später, im Winter 2017, marschierte Han Kang gemeinsam mit Hunderttausenden Südkoreanern auf der historischen Sejong-Straße in Seoul, um den Rücktritt der in Korruptionsskandalen verwickelten Ex-Präsidentin Park Geun-hye zu fordern. Doch als Aktivistin äußerte sie sich nie, sondern ließ meist ihr Werk für sich sprechen. Der Hype, den sie nun ausgelöst hat, wird Han Kang sicher unangenehm sein. Schließlich scheut sie meist die Öffentlichkeit, lebt in der südkoreanischen Hauptstadt Seoul ein bodenständiges Leben. In einer ersten Reaktion sagte sie der südkoreanischen Presse, sie fühle sich „sehr überrascht und geehrt“.

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