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Links aus dem Fenster blickt man auf die Elisabethkirche: In der Wohnung des Autors Foto: Sophie Kirchner

Mein Vormieter Max Anschel (3)Die gnadenlose Kirche gegenüber

Die jüdisch-katholische Famlie Anschel lebte in der NS-Zeit in Berlin-Mitte, direkt gegenüber einer NS-dominierten Kirche. Heute kann dort auch eine jüdische Gemeinde feiern.

Eine Hochzeit im goldenen Oktober

Der 8. Oktober 1927 war ein freundlicher Tag. Am Freitag hatte es noch geregnet in Berlin. Aber nun am Samstag zeigte sich die Sonne laut historischem Wetterbericht am leicht bewölkten Himmel über Berlin. Vielleicht war es ein wunderbarer Tag in den „goldenen zwanziger Jahren“ zum Heiraten. Genau das taten der Prokurist Max Anschel und seine Braut, die Stenotypistin Anna Eberhardt. Zusammen mit ihren Trauzeugen gaben sie sich im Standesamt IV b an der Böckhstraße in Kreuzberg das Ja-Wort.

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„Der Standesbeamte richtete an die Verlobten einzeln und nacheinander die Frage: ob sie die Ehe miteinander eingehen wollen. Die Verlobten bejahten diese Frage und der Standesbeamte sprach hierauf aus, daß sie kraft des Bürgerlichen Gesetzbuches nunmehr rechtmäßig verbundene Eheleute sind.“ So steht es auf der Urkunde zum „Aufgebotsverzeichnis Nr. 299“.

17 Jahre später war Max Anschel tot, 1944 wurde er ermordet im KZ Stutthof, weil er Jude war.

Seit Februar 2023 weiß ich von seinem Schicksal. Max Anschel hatte zuletzt in dem Haus gewohnt, in dem ich heute lebe. Ende April 2023 hatte ich – an seinem 135. Geburtstag – erstmals in meinem Blog über ihn und seine Familie geschrieben. Und getwittert.

Als Folge davon erreichte mich eine Mail von Jutta Faehndrich. Sie beschäftigt sich beruflich mit Familienforschung für jüdische Menschen mit Wurzeln in Deutschland und hat mir schon kurz darauf die Hochzeitsurkunde von Max und Anna zukommen lassen. Und viele Infos mehr.

Plötzlich weiß ich, was man alles erfahren kann, wenn man in die Geschichte einer Familie eintaucht.

Die Unterschriften von Max und Anna Anschel auf ihrer Heiratsurkunde aus dem Jahr 1928 Foto: privat

Auf der Urkunde sind auch die Trauzeugen des Paars vermerkt. Zum einen offenbar der Vater von Anna, Heinrich Eberhardt. Zum anderen der Ingenieur Adolf Anschel, 42 Jahre alt, aus „Crefeld“. Es ist ein weiteres Puzzlestück in der Geschichte der Familie Anschel. Denn es bestätigt, dass Adolf wie bereits vermutet tatsächlich der Bruder von Max war. Und es führt mich bei meinen weiteren Recherchen erst mal weit weg von Berlin weiter in die verzweigte Familie der Anschels – bis nach Holland.

Von Krefeld über Holland nach Auschwitz

Auch Adolf Anschel wurde von den Nazis ermordet. Er wurde im August 1942 nach Auschwitz deportiert und später für tot erklärt. In der Datenbank der Holocaust-Gedenkstätte Yad Vashem in Jerusalem findet sich ein Foto von ihm.

Der Vater von Adolf und Max hieß Albert. Spuren seines Lebenswegs finden sich in den Akten des Krefelder Stadtarchivs. Das erfahre ich aus einer Mail von Fabian Schmidt, der dort die Meldekarten für mich durchforstet hat.

Albert Anschel hatte 1883 seine Frau Laura Hasendahl geheiratet. Nach der Geburt der Söhne Adolf und Max in Schermbeck am Niederrhein zogen sie nach Krefeld. Dort wohnte die Familie bis 1905 zunächst am Alexanderplatz 3. Die Adresse klingt, als wenn sie der späteren Berliner Geschichte von Max vorgreifen würde. Doch das täuscht.

Fast ein Nachbar von Joseph Beuys

Ein Blick auf Google Maps zeigt: Der Krefelder Alexanderplatz ist anders als seine Berliner Namensvetter nur eine kleine Grünfläche, umstellt von schmalen, dreistöckigen Bürgerhäusern.

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Dafür zeigt Google Maps noch ein anderes Detail: Nur zwei Häuser weiter verbrachte gut 15 Jahre später im Jahr 1921 Joseph Beuys seine ersten Lebensmonate, der später, als Max Anschel schon in Auschwitz inhaftiert war, mit einem Flugzeug der Luftwaffe über der Krim abstürzte. Und der noch viel später sich als Künstler einen Namen machte.

Aber das ist eine andere Geschichte. Sie erzählt höchstens, in was für einer Gegenwart die Anschels gelebt haben. Aber ich muss aufpassen, den roten Faden zu halten – und nicht abzuschweifen in parallele Welten. In der weitverzweigten Familie der Anschels fällt es schwer, den Überblick zu behalten.

Kurz nach dem Tod seiner Frau Laura im Jahr 1912 verließ Albert Anschel Krefeld – und zog laut Meldekarten für ein paar Jahre nach Zütphen in Holland. Das hat einen einfachen Grund.

Eine Zeit lang hatte Sophie, eine Nichte von Albert, als Schülerin mit den Anschels in Krefleld gelebt. Sie hatte zwei Schwestern – Hedwig und Henriette, die mit ihren holländischen Ehemännern David Snatager beziehungsweise Joseph Frankfort in Zütphen lebten.

Hedwig Snatager-Anschel Foto: joodsmonument.nl

All diese familiären Verknüpfungen erfährt man schnell über gut geführte holländische Webseiten wie joodsmonument.nl oder stolpersteinezutphen.nl. Von Hedwig Snatager-Anschel und ihrem Mann David Snatager findet man dort sogar Fotos.

David Snatager Foto: joodsmonument.nl

Man erfährt viel über das traurige Schicksal der Familie – und die grauenhafte Radikalität, mit der das nationalsozialistische Deutschland die Ermordung der Juden betrieb.

Hedwig und David Snatager wurden wie ihre Töchter Flora und Henriette 1942 in Auschwitz ermordet.

Henriette und Joseph Frankfort wurden wie ihre Kinder Emanuel und Brunetta in Auschwitz getötet.

Die Schwester von Joseph Frankfort starb in Auschwitz, ihre Mutter in Sobibor.

David Snatager hatte noch mindestens zwei Geschwister, die teils mit ihren Familien in Konzentrationslagern um Leben kamen.

Stammbaum der Familie Anschel Infografik: Gereon Asmuth

Je mehr man über die Geschichte dieser jüdischen Familie weiß, desto öfter endet sie mit Ermordung.

Dank der Digitalisierung lassen sich diese Lebenswege heutzutage leicht recherchieren. Es bietet die Chance, dass sie unvergessen bleiben.

Die steinerne Moral im Kiez

All diese Details sind mittlerweile sehr präsent in meinem Kopf. Die Geschichte der Anschels beschäftigt mich, will raus – zum Beispiel in der Kantine der taz.

Dort treffe ich beim Mittagessen meinen Kollegen Ulrich Gutmair. Wir reden erst ein wenig über sein Buch „Wir sind die Türken von morgen“, in dem er über New Wave und Punk im Deutschland der 80er Jahre geschrieben hat, unter anderem über eine Punkband aus Hannover, die sich „Deutschland“ nannte und mit nur einem einzigen Konzert für Furore sorgte.

Als ich umgekehrt über meine Recherchen zu Max Anschel erzähle, erinnert er mich an eine Passage aus seinem ersten Buch „Die ersten Tage von Berlin“: Darin beschreibt er unter anderem die Nazi-Geschichte der Elisabethkirche, die schräg gegenüber vom Wohnhaus der Anschels steht. Wer dort aus dem Fenster schaut, hat immer dieses Gotteshaus vor der Nase.

Steinerne Moralinstanz: Das Portal der renovierten Elisabethkirche Foto: Sophie Kirchner

Die Kirche bildet den architektonischen Mittelpunkt des Kiezes, in dem die Anschels lebten. Sie hat keinen Turm und ähnelt einem römischen Tempel. Sie war 1835 in der Rosenthaler Vorstadt nach Plänen von Karl Friedrich Schinkel gebaut worden – auch um in der Gegend die nötige Moral zu verankern.

Vom Arbeiterblock zum Luxusviertel

Denn als das Viertel im 19. Jahrhundert vor den damaligen Toren der kleinen Stadt Berlin entstand, war es ein hartes Pflaster. Ein raues Quartier für die Arbeiter:innen, die in den wenige hundert Meter weiter westlich gelegenen Fabriken schufteten, in denen etwa der Fabrikant Alfred Borsig Lokomotiven und Zugwaggons bauen ließ. Oder wo der Elektrokonzern AEG seine Glühbirnen produzierte. Wegen der vielen rauchenden Schlote wurde die Gegend Feuerland genannt.

Bis 1945 war das Gebiet rund um den nahe gelegenen Stettiner Bahnhof, von dem die Züge Richtung Ostsee fuhren, zudem ein typisches Bahnhofsviertel mit vielen Hotels und Pensionen. Nach dem Krieg wurde es deutlich ruhiger, bis 1989 war das Viertel Zonenrandgebiet – mitten in der Stadt. Keine 500 Meter weiter nördlich an der Bernauer Straße stand die Berliner Mauer. Und auch nach deren Fall blieb es anfangs vorwiegend grau.

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Hier und da schrieben Haus­be­set­ze­r:in­nen den Slogan „Wir bleiben alle“ an die Fassaden. Später ließen Investoren die Parole „Wir schaffen das“ auftragen. Eine Geschichte, die ich vor Jahren an anderer Stelle aufgeschrieben habe.

Heute ist das Viertel nahezu komplett durchgentrifiziert. Wenn eine Apotheke schließt oder ein Optiker dichtmacht, werden dort bald Burgerläden eröffnet – oder diese Cafes mit schmucklos sandfarbenen Wänden und hellem Licht, die gerade der letzte Coffee-House-Schrei zu sein scheinen und in denen man mit „cards only“ bezahlen muss.

Die sprechenden Fassaden

Die Rosenthaler Vorstadt in Berlin-Mitte hat nicht nur eine bewegende Vergangenheit, auch die Entwicklung nach dem Mauerfall waren rasant. In einem grauen Viertel in der Nähe der Mauer gab es nach der Wende zunächst mehrere besetze Häuser, deren Be­woh­ne­r:in­nen für Farbe an den Fassaden sorgten. Seit 2010 wurde das Viertel nahezu komplett durchgentrifiziert. Einer der Investoren, die die Häuser zu teuren Spekulationsobjekten umbauen, lies an die Fassade eines Gebäude den Merkelspruch „Wir schaffen das“ pinseln. Für den taz-Autor Gereon Asmuth war das Anfang 2017 Anlass für einen langen Spaziergang durch den Kiez der sprechenden Fassaden und die Erzählung der jüngeren Geschichte des Kiezes.

Wer hier wohnt, hat entweder einen uralten Mietvertrag – oder richtig viel Geld. Mietwohnungen werden aktuell nicht unter 25 Euro pro Quadratmeter angeboten. Wer kaufen will, muss bis zu 10.000 Euro je Quadratmeter auf den Tisch legen.

Die gnadenlose Kirche gegenüber

Als die Anschels hier lebten, war die evangelische Gemeinde der Elisabethkirche fest in der Hand der Nazis. Schon zur Hundertjahrfeier 1935, schreibt Uli, habe sie „über beste Verbindungen zu den neuen Machthabern“ verfügt. So wie in den meisten Gemeinderäten waren auch hier die „Deutschen Christen“ gegenüber Mitgliedern der bekennenden Kirche in der Mehrheit. Sie hätten mit Eifer den Ausschluss von Christen jüdischer Abstammung betrieben und 1935 beschlossen, „Judentaufen“ zu untersagen.

Das traf auch die Familie von Ingrid Kropidlowski, die ganz in der Nähe in der Strelitzer Straße gewohnt hatte. Ihr Vater war ein evangelischer Autoelektriker, ihre Mutter stammt aus einer jüdischen Familie. Deshalb verweigerten die Pfarrer der Elisabethkirche 1941 dem Kind die Taufe.

Das Mädchen wurde stattdessen in der benachbarten Versöhnungsgemeinde getauft, die viel später weltberühmt wurde, weil deren Kirche ab 1961 mitten im gesperrten Mauerstreifen stand – bis sie 1985 auf Weisung des DDR-Regimes gesprengt wurde.

Heute ist dort – auch weil sich ihr Pfarrer Manfred Fischer in der Wendezeit für den Erhalt eines Stückes der Mauer eingesetzt hatte – die Gedenkstätte Berliner Mauer und mittendrin eine neue, kleine Kapelle. Aber auch das ist eine andere Geschichte.

In der Strelitzer Straße wurden 2008 auf dem Bürgersteig Stolpersteine verlegt, die an Ingrid Kropidlowski und ihre Mutter Ruth erinnern. Sie waren 1943 nach Theresienstadt deportiert worden.

In Ulis 2013 erschienenem Buch hieß es noch, vor der Elisabethkirche stehe nur eine Tafel, „auf der über die Aktivitäten der Kirche von Unten berichtet wird“ – also über den Widerstand gegen das DDR-Regime in den 80er Jahren. Im Internet wird die Nazi-Geschichte der Kirche bis heute nicht erwähnt.

Der Gruß an den Führer

Aber immerhin zeigt sich heute die Infotafel vor der Kirche etwas ehrlicher. „In St. Elisabeth herrschten die DC (Deutsche Christen) unter Pfarre Bethke uneingeschränkt“, heißt es dort. „Alle kirchlichen Mitarbeiter beteiligten sich zu 100 % an den Veranstaltungen der NSDAP.“ Die Wiedereinweihung der Kirche nach der Renovierung 1936 sei unter wehenden Hakenkreuzfahnen und Lobsprüchen auf den Führer Adolf Hitler erfolgt. Vor der Reichstagswahl im März 1936 habe vor den Säulen am Eingang der Kirche ein Spruchband gehangen, auf dem stand: „Daß wir unser Kirche erneuern, verdanken wir dem Führer!“

Die Infotafeln neben der Elisabethkirche Foto: Sophie Kirchner

Auf einem ebenfalls abgebildeten Foto von dem Spruchband ist auch die Inschrift am Kirchenportal darüber zu sehen: „Des Herrn Wort bleibt in Ewigkeit“ steht dort. Zum Glück war auch diese Ewigkeit begrenzt. Am 8. März 1945 wurde die Kirche bei einem Bombenangriff weitgehend zerstört. Jahrzehntelang blieb nur eine Ruine. Heute wird die behutsam wiedererrichte Kirche vor allem für kulturelle Veranstaltungen genutzt. Am Portal steht nichts mehr.

Max Anschel war Jude, Anna Anschel Katholikin. Mit der evangelischen Kirchengemeinde werden sie anders als die Kropidlowski nichts direkt zu tun gehabt haben. Aber an dem Spruchband werden 1936 auch die Anschels vorbeigelaufen sein. Sie wohnten ja gleich ums Eck in der Bergstraße. Und sie zogen, wie ich viel später erfahren werde, just in dem Jahr, als das Nazi-Banner vor Kirche hing, in das Haus gleich gegenüber.

Chanukka, 80 Jahre später und ein Brandanschlag

Genau dort, wo fast 80 Jahre zuvor Adolf Hitler gehuldigt wurde, bietet sich im Herbst 2023 zum Glück ein ganz anderes Bild. Im Garten vor der Kirche feiern Anfang Dezember hunderte Menschen Chanukka, das jüdische Lichterfest. Es war eine Kooperation der evangelischen Gemeinde mit Kahal Adass Jisroel.

Die kleine orthodoxe Gemeinde hat ihre Synagoge samt Schule, Kita und weiteren Einrichtungen keine 300 Meter entfernt an der Brunnenstraße. Wenige Wochen zuvor, kurz nach dem Überfall der Hamas auf Israel am 7. Oktober 2023, hatten Unbekannte nachts zwei Brandsätze auf das Gemeindehaus geworfen, es zum Glück aber verfehlt. Seither stehen vor dem Haus nicht mehr nur zwei Polizisten. Das ganze Gebäude samt Bürgersteig davor ist mit Absperrgittern gesichert. Eine räumliche Annäherung ist nicht mehr möglich.

„Wir wollen nicht in einem Bunker leben, uns nicht hinter Mauern verstecken“, sagte Pasah Lyubarski, vom Vorstand der Gemeinde, „sondern mit unseren Nachbarn gemeinsam Chanukka feiern.“ Denn alle zusammen seien ein aktiver, sichtbarer Teil der Zivilgesellschaft im Kiez.

Doch auch schon vor 1945 konnten Mitglieder der Kirchen klar Position gegen die Nazis ziehen. Das erfahre ich, als ich es endlich schaffe, die Akten zu Anna und Ruth Anschel im Diözesanarchiv anzusehen.

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Die Geschichte von Max Anschel und seiner Familie hat taz-Redakteur Gereon Asmuth in einer sechsteiligen Serie aufgeschrieben. Alle Texte finden Sie unter taz.de/maxanschel.

Teil 1: Mein Vormieter Max Anschel, ermordet im KZ Stutthof 1944

Teil 2: Vier Tage und ein halbes Brot – Das KZ Stutthof, in dem Max Anschel starb, galt unter Häftlingen als schlimmstes Lager.

Teil 4: Der Riss in der Tür – Ein Mordversuch, ein Einbruch, eine zertrümmerte Tür: Auf den Spuren meiner Vormieterin Anna Anschel

Teil 5: „Mutti, ich habe eine sehr, sehr grosse Bitte an Dich!“ – Die Geschichte der Tochter Ruth Anschel

Teil 6: Der Verrat im Luftschutzkeller und das Leben im Nazinest nach dem Krieg

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