Wege zur psychischen Gesundheit: „Diagnosen können auch einengen“

Zum Welttag für psychische Gesundheit fordert Grünen-Polikerin Kappert-Gonther flexiblere Hilfssysteme. Dabei könne auch ein Blick nach Bremen helfen.

Frau steht am offenen Fenster

Gefangen im Patriarchat: Frauen schätzen ihre psychische Gesundheit schlechter ein als Männer Foto: Fabian Sommer/dpa

taz: Frau Kappert-Gonther, am Donnerstag ist der Welttag für psychische Gesundheit. Um die der Deutschen steht es derzeit schlechter als vor fünf Jahren. Was braucht es außer Psychotherapieplätzen?

Kirsten Kappert-Gonther: Die braucht es dringend, gerade für Kinder und Jugendliche. Darüber hinaus gilt es, dafür zu sorgen, dass Menschen, die in seelischer Not sind, die für sie passende Unterstützung finden.

taz: Was wäre das?

Kappert-Gonther: Wir brauchen ein flexibleres System in den Übergängen zwischen stationären und ambulanten Hilfen. Manchmal ist in einer akuten Krise die Behandlung in einer psychiatrischen Klinik sinnvoll. Aber viele Menschen benötigen dann nicht unbedingt ein Bett auf Station oder nur für kurze Zeit. Vielleicht hilft ein tagesklinisches Angebot besser. Oder The­ra­peu­t*in­nen und Pflegekräfte, die ein- oder mehrmals in der Woche nach Hause kommen. Und wenn es eine krisenhafte Zuspitzung gibt, könnte die betroffene Person wieder für ein oder zwei Nächte in der Klinik aufgenommen werden, ohne erneute Einweisung. Diese flexiblen Möglichkeiten haben Kliniken bisher nur im Rahmen von Modellvorhaben, begrenzt auf eine gewisse Zeit.

Die 57-jährige Grünen-Politikerin ist seit 2017 Mitglied des Bundestags und dort seit 2022 Vorsitzende des Gesundheitsausschuss. Kappert-Gonther ist Psychiaterin und führte vor ihrem Einzug in das Parlament eine Praxis für Psychotherapie. Sie lebt in Bremen.

taz: Müsste man nicht verhindern, dass Menschen so krank werden?

Kappert-Gonther: Ja, Prävention ist entscheidend. Wir brauchen gesundheitsfördernde Lebenswelten und ein Bewusstsein dafür, was uns seelisch gesund hält. Und es braucht Anlaufstellen, an die ich mich in einer Krise wenden kann. Dazu gehört die bundeseinheitliche Telefonnummer, die Teil des Suizidpräventionsgesetzes sein soll.

taz: Reichen die Krisendienste nicht?

Kappert-Gonther: Es gibt gute Krisendienste, für tags und nachts, die aber unterschiedlich verteilt und selten 24/7 verfügbar sind. Wo Angebote fehlen, wenden sich Menschen oft an die Notfallambulanzen der somatischen Kliniken: Etwa ein Drittel der Hilfesuchenden sind Menschen in psychischer Not.

taz: Besser dort als nirgendwo, oder?

Kappert-Gonther: Die Hilfen passen aber häufig nicht. Es kommt zu Fehlbehandlungen oder Unterversorgung, wenn ihnen gesagt wird: ‚Sie haben nichts, gehen Sie mal wieder.‘ Ohne Verweis auf ein adäquates Hilfsangebot, weil das fehlt oder nicht bekannt ist. Darum setze ich mich dafür ein, dass bei der anstehenden Notfallreform diese Personengruppe mitberücksichtigt wird. Wir brauchen bei den Anlaufstellen die entsprechenden Kompetenzen oder die Möglichkeit, diese beispielsweise über Telemedizin einzuholen sowie einen Ausbau von Krisenhilfen.

taz: Sollten die Kassen die Krisendienste mitfinanzieren?

Kappert-Gonther: Ja. Es würde nicht nur individuelles Leid reduzieren, sondern auch Geld sparen, wenn Krisen früh begegnet und so die Gefahr der Chronifizierung reduziert wird. Psychische Erkrankungen mit all ihren Folgen wie Arbeitsausfällen und Frühverrentung verursachen laut Schätzung der OECD jährlich Kosten von 147 Milliarden Euro allein in Deutschland! Das ist fast ein Drittel des Bundeshaushaltes.

taz: Das Gesundheitssystem orientiert sich an Pathologie, nicht an Prävention.

Kappert-Gonther: Da haben wir in Deutschland leider keine gute Tradition. Zum Vergleich: In Finnland haben Schwangere und Eltern mit ihren Kindern bis zum siebten Lebensjahr in allen Lebenslagen eine direkte Ansprechpartnerin. Zudem adressieren finnische Firmen systematisch die Gesundheitsförderung, auch bezogen auf die Psyche. Aber es gibt auch in Deutschland Beispiele wie die Gesundheitsfachkräfte in Bremen, die in den Quartieren unterwegs sind. Einige sind auch ausgebildet, um in psychosozialen Belangen unterstützen zu können.

taz: Was wirkt noch präventiv?

Kappert-Gonther: Eine psychische Krankheit kommt nicht schicksalhaft, sondern entwickelt sich im Alltag aus der Kombination individueller und sozialer Faktoren. Oft entstehen Krisen in Übergangssituationen, bei Kindern zum Beispiel zwischen Kita und Schule. Wenn es da eine Vernetzung gibt, sinkt das Risiko, krank zu werden. Auch eine Stadt, die durch kluge Verkehrspolitik und Aufenthaltsqualität im öffentlichen Raum zur Begegnung einlädt, reduziert Einsamkeit und stärkt Resilienz.

taz: Es gibt äußere Faktoren, die sich schwer beeinflussen lassen.

Kappert-Gonther: Die Klimakrise ist die größte Gesundheitsgefahr unserer Zeit. Durch die Erderhitzung ausgelöste Starkwetterereignisse ziehen Traumafolgestörungen etwa bei Flutopfern nach sich. Wir wissen auch, dass in Hitzeperioden Depressivität und Angsterkrankungen wahrscheinlicher werden. Das heißt, dass wir die seelische Gesundheit in allen Politikbereichen stärker berücksichtigen müssen.

taz: Soziale Ungleichheit kann auch psychisch krank machen.

Kappert-Gonther: Absolut. Armut und Teilhabebarrieren lassen die Wahrscheinlichkeit zur Entwicklung von psychischen Krankheiten steigen. Umgekehrt erhöhen seelische Erkrankungen das Armutsrisiko. Auch Ausgrenzungsrhetorik macht etwas mit Menschen. Je weniger ich mich gewollt fühle, je weniger Möglichkeiten echter Partizipation ich habe, desto größer ist das Erkrankungsrisiko.

taz: Nach den Daten des Robert Koch Instituts schätzen Frauen ihre psychische Gesundheit schlechter ein als Männer.

Kappert-Gonther: Das wundert mich nicht. Frauen sehen sich widersprüchlichen Rollenzuschreibungen ausgesetzt. Sie sollen Karriere machen, sich um die Kinder kümmern, wenn die Kita oder die Schule ausfällt, immer toll aussehen. Jedes Leben ist krisenbehaftet, aber das sind Überforderungsszenarien, die zu einem Perfektionismus führen können, der suggeriert, ich muss auch noch in einer Krise performen. Gleichzeitig nehmen Männer seltener Hilfe in Anspruch, haben eher gesundheitsschädigende Bewältigungsstrategien und begehen eher Suizid. Auch das sind Folgen schädlicher Rollenbilder.

taz: Gegen das Patriarchat hilft keine Therapie?

Kappert-Gonther: Solche tradierten, negativ wirksamen Zuschreibungen sind niemals nur innerpsychisch lösbar. Das ist unsere gesellschaftliche und politische Aufgabe! In einer Psychotherapie kann man aber eruieren, wie man mit krisenhaften Situationen besser umgeht, mit dem Ziel, freier agieren zu können.

taz: Vorausgesetzt, man weiß, dass es so etwas gibt und wie man einen Platz bekommt …

Kappert-Gonther: Für Menschen mit geringeren Teilhabechancen sind die Zugangsbarrieren größer. Häufig fallen ausgerechnet diejenigen, die es am nötigsten haben, durch die Maschen. Ein Problem ist, dass die Kosten für Sprachmittlung immer noch keine Kassenleistung sind. Es braucht außerdem weitere niedrigschwellige Angebote im Quartier.

taz: Wie Brynja, das „Fitnessstudio für die Psyche“ in Bremen?

Kappert-Gonther: Dieses Angebot ist einzigartig. Ein Begegnungszentrum, in dem sich jede Person seelisch stärken kann, ohne Diagnose, alle sind willkommen. Das wird sehr gut angenommen, läuft aber ehrenamtlich auf Spendenbasis, weil es in der aktuellen Finanzierungssystematik keinen Topf gibt, der dafür nutzbar wäre. Die Änderung des Präventionsgesetzes wäre sinnvoll, damit die Kassen dies finanzieren können.

taz: Ohne Diagnose geht in Deutschland wenig.

Kappert-Gonther: Diagnosen können helfen, aber auch einengen. Es ist außerdem wichtig, dass Menschen ihren Weg wieder aus dem Hilfesystem herausfinden, in der Psychiatrieszene wird das als „Recovery“ bezeichnet. Da sind auch wir als Profis gefordert, die Menschen nicht durch pathologische Zuschreibung einzuengen. Menschen sind immer mehr als ihre Diagnose.

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