Krieg in Nahost: Angriff von neuer Qualität

Irans jetzige Raketen senden an Israel eine schärfere Botschaft als zuletzt. Eine harte Reaktion Netanjahus macht Krieg mit Iran wahrscheinlicher.

Menschen stehen um die offensichtlichen Überreste einer ballistischen Rakete, die nach einem Angriff des Irans auf Israel in der Wüste liegt, in der Nähe der südlichen Stadt Arad, Israel 2. Oktober 2024

Nach einem Angriff des Irans auf Israel: die Überreste einer ballistischen Rakete in der Nähe der Stadt Arad am 2. Oktober 2024 Foto: Amir Cohen/reuters

Berlin taz | Der Nahe Osten steht vor einem seiner entscheidendsten und gefährlichsten Momente. Nachdem Israel den Anführer der Hisbollah, Hassan Nasrallah, getötet hatte und eine Bodeninvasion in den Libanon gestartet hat, hat sich der Iran nun direkt eingeschaltet. Am Dienstagabend griff er Israel mit 181 Raketen an.

Bereits im April hatte der Iran einen direkten Angriff mit Drohnen, Marschflugkörpern und Raketen auf Israel vorgenommen – es war der erste überhaupt. Im April kam der Angriff mit Ankündigung – 99 Prozent der Geschosse konnte Israel mit Unterstützung der USA, Großbritanniens und Jordaniens abfangen, einen Großteil davon, bevor sie überhaupt israelisches Gebiet erreichen konnten. Ohnehin zielten sie vor allem auf eine Militärbasis in der spärlich besiedelten Negevwüste. Der Schaden war gering.

Doch der Angriff vom Dienstagabend hatte eine ganz andere Qualität. Dieses Mal ließ der Iran seine Pläne nicht vorher durchsickern, wenn auch Warnungen vor einem drohenden Angriff aus den USA kamen.

Unter den Raketen sollen iranischen Angaben zufolge auch Hyperschallraketen gewesen sein, die sogenannte Fattah-1-Rakete. Diese solle von Radarsystemen unerkannt aus unterschiedlichen Richtungen zuschlagen können.

Irans jetzige Raketen sollten wirklich treffen

Während die Geschosse im April mehrere Stunden für den Weg benötigten, erreichten sie am Dienstagabend innerhalb von 12 Minuten israelisches Staatsgebiet. Ausgerichtet waren sie auf dicht besiedelte Gebiete, so dass die Sirenen fast die gesamte israelische Bevölkerung – von der Negevwüste bis hoch nach Haifa – in die Schutzbunker rief.

Kurz nach dem Angriff zeigten Fernsehbilder einen mehrere Meter breiten wie tiefen Krater, der im Zentrum des Landes in die Erde geschlagen wurde, ein Haus im Norden Tel Avivs wurde direkt getroffen, einem Restaurant in Jerusalem schlug es die Scheiben aus. Ein Palästinenser wurde in Jericho im Westjordanland durch herabfallende Raketenteile getötet. Einige Menschen wurden verletzt.

Das israelische Militär räumte am Mittwoch ein, dass verschiedene Luftwaffenstützpunkte getroffen worden seien. Der Schaden würde die Einsatzfähigkeit der Luftwaffe jedoch nicht beeinträchtigen.

Nur wenige Minuten vor dem Angriff verübten zwei Angreifer einen mutmaßlichen Terroranschlag in Jaffa-Tel Aviv mit Schusswaffen und Messern. Es war der größte Anschlag in der Küstenstadt seit dem 7. Oktober, sieben Menschen wurden getötet.

Ein offener Krieg mit Iran ist wahrscheinlicher geworden

Die große Frage ist jetzt: Wie geht es weiter? Wovor monatelang so viele gewarnt haben, ist am Dienstagabend nochmal wahrscheinlicher geworden: ein offener Krieg mit dem Iran.

Laut iranischem Staatsfernsehen sei der Angriff eine Vergeltung für die Tötung von Hamas-Führer Ismail Haniyeh und Hisbollah-Anführer Hassan Nasrallah sowie eines iranischen Generals gewesen.

Das Außenministerium in Teheran teilte am späten Dienstagabend auf X mit, der iranische Angriff sei abgeschlossen – es sei denn, Israel entscheide sich für weitere Vergeltungsmaßnahmen. Dann werde der Iran mit einer noch härteren Reaktion antworten.

In israelischen Kreisen wird davon ausgegangen, dass Ministerpräsident Benjamin Netanjahu reagieren muss, und es gibt wenig Zweifel daran, dass die Antwort heftig ausfallen wird. Israelische Regierungsbeamten bezeichneten die Ereignisse vom Dienstag als „iranische Kriegserklärung“.

Israel wird auf Irans Raketenbeschuss wohl reagieren

Möglich ist, dass Israel mit gezielten Tötungen vorgehen wird. Doch als mögliche Ziele eines Vergeltungsschlags gelten auch Angriffe auf die Ölraffinerien und Wasseranlagen des Iran – und natürlich: auf die Nuklearanlagen.

Das iranische Atomprogramm wird von Israel seit Langem als existenzielle Bedrohung wahrgenommen. Nach derzeitiger Einschätzung verfügt der Iran zwar noch nicht über Atomwaffen, doch das Atomprogramm ist wohl so weit fortgeschritten, dass das Land diese Atomwaffenfähigkeit sehr schnell ermöglichen könnte.

Bislang hat Israel versucht, den Fortschritt des iranischen Atomprogramms durch begrenzte Sabotageakte aufzuhalten, vor allem in Form von Cyberangriffen, aber auch durch Attentate auf Wissenschaftler.

Der Bulletin of the Atomic Scientists, ein US-amerikanisches Magazin, das sich mit Fragen der globalen Sicherheit auseinandersetzt, wagt die Einschätzung, dass ein direkter Schlag gegen die iranischen Atomanlagen wenig an Irans Fähigkeit mindern würde, Atomwaffen herzustellen. Stattdessen würde der Glauben des Iran daran, dass sie eine Atombombe brauchen, um sich zu verteidigen, wohl signifikant erhöht.

Die Anreicherungsanlagen in Natanz und Fordow liegen teilweise oder ganz im Untergrund. Um sie zu beschädigen, bräuchte es Waffen, die in der Lage sind, mehrere Dutzend Meter Gestein und Stahlbeton zu durchdringen, bevor sie im Inneren der Anlagen explodieren. Getragen werden können solche Waffen nur von US-Bombern.

Ist der US-Wahlkampf eine Chance für Netanjahu?

Die Zukunft des Nahen Osten liegt damit in den USA. Der New York Times zufolge hoffen US-Beamte, dass Netanjahu eine Botschaft an den Iran senden wird, ohne einen offenen Krieg im Nahen Osten und mit dem Iran auszulösen, zumal jetzt in diesen fünf Wochen vor den Präsidentschaftswahlen in den USA.

Doch der israelische Premier könnte in diesen fünf Wochen auch eine Chance sehen: Ob sich die US-Demokraten erlauben können, Israel zurückzuhalten, nun, da es vom Iran angegriffen wurde? Den Ex-Präsidenten Donald Trump zumindest dürfte Netanjahu ohnehin schon auf seiner Seite haben.

Dass Israels Regierung wenig Zurückhaltung zeigen wird, legt auch der jüngste Schritt nahe: Israel erklärte am Mittwoch UN-Chef António Guterres zur unerwünschten Person. Dieser hatte nach dem iranischen Raketenangriff am Dienstagabend die „Ausweitung des Konflikts im Nahen Osten“ verurteilt, in der „Eskalation auf Eskalation“ folge. Er hatte den Iran in seiner Reaktion jedoch nicht ausdrücklich erwähnt.

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