Roman über Aufwachsen im Osten: Rein in unsere Jugend

In seinem rasanten Roman „Schnall dich an, es geht los“ verhandelt Dome­nico Müllensiefen fast alle Ost-Diskurse, über die gerade gesprochen wird.

Ein Mann lehnt sich an

Autor Dome­nico Müllensiefen wurde 1987 in Magdeburg geboren Foto: Susanne Schleyer/akg images

Jeetzenbeck ist Anfang der nuller Jahre ein trost- und perspektivloser Flecken in der Landschaft. Die Arbeitslosigkeit in dem fiktiven kleinen Ort in der Altmark ist hoch, eine wichtige alte Zugverbindung, die sogenannte Amerikalinie, soll eingestellt werden, selbst die frischen Euromünzen aus anderen Ländern mit den interessanten Motiven scheinen hier langsamer anzukommen als anderswo.

Immerhin geht es beim FCM, dem Fußballklub 1. FC Magdeburg, zu dem vor allem junge Männer wochenends hinpilgern, zwischenzeitlich aufwärts, „zumindest wirkte es so. Raus aus den Neunzigern, rein in das neue Jahrtausend, rein in einen Aufschwung, rein in unsere Jugend, und dabei die Welt entdecken. Aber irgendwie wurde unsere Welt immer kleiner, und das, was uns als Aufschwung verkauft wurde, war schon nicht mehr Stillstand, es war eher Abbau. Abbau Ost.“

Dies ist die Situation, die Marcel Körtge, der Protagonist in Domenico Müllensiefens zweitem Roman „Schnall dich an, es geht los“, vorfindet. Marcel ist ein junger Mann aus Jeetzenbeck, er durchlebt eine Umbruchszeit in der sachsen-anhaltischen Provinz: Die einen bleiben, die anderen gehen, alte Pfade werden verlassen, neue Wege beschritten. Mit einem tiefen Einschnitt im Leben von Marcel setzt die Handlung ein: Seine 14-jährige Schwester Vanessa nimmt sich das Leben, sie fährt in einem Citroën ZX mit fast 200 km/h frontal gegen eine Mauer.

Domenico Müllensiefen: „Schnall dich an, es geht los“. Kanon Verlag, Berlin 2024, 352 Seiten, 25 Euro

Doch Marcels Leben ist auch darüber hinaus in Unordnung. Seine Eltern haben sich getrennt, bevor seine Schwester Suizid beging. Was mit Steffi, seiner großen Liebe, wird, ist unklar, sie ist auf dem Absprung Richtung Hamburg. Ein Freund namens Mülle, mit Nachnamen Müllensiefen, haut nach Magdeburg ab, ehe er später nach Leipzig geht und von sich sagt, er sei jetzt Schriftsteller.

Man nannte ihn „Nazi-Schulz“

Marcel und sein bester Freund Pascal Schulz bleiben hingegen in Jeetzenbeck. Dessen Vater Dirk war einst in der DVU, man nannte ihn „Nazi-Schulz“, er handelt auch weiterhin mit Nazi-Devotionalien; zugleich behauptet er, seine Zeit als Rechtsextremer liege hinter ihm („Es gibt keinen Grund mehr, dass man mich Nazi-Schulz nennt. Man sollte mich Historiker-Schulz nennen.“)

Vor 1989 wurden die Weichen für die rassistischen Anschläge der Neunziger gestellt

Wie die Söhne Marcel und Pascal waren auch schon die Väter Dirk und Ralf seit Jugendtagen an befreundet. Müllensiefen erzählt all dies auf zwei Zeit­ebenen, Marcel blickt von der Gegenwart (2023) auf die Zeit zwanzig Jahre zuvor zurück. Inzwischen ist er Verkäufer in einem Dönerimbiss, den Steffis kubanischer Vater Emilio betreibt. Und in der Gegenwart kehrt auch Steffi nach Jeetzenbeck zurück, nach zwanzig Jahren.

Der Autor Domenico Müllensiefen taucht hier natürlich nicht ohne Grund als Figur auf. Müllensiefen, Jahrgang 1987, ist selbst in der Altmark aufgewachsen, ging wie die Figur nach Magdeburg und später nach Leipzig, wo er zunächst als Systemelektroniker arbeitete, ehe er von 2011 an am Deutschen Literaturinstitut studierte.

In seinem Debütroman „Aus unseren Feuern“ (2023) erzählte er eine anders gelagerte Coming-of-Age-Geschichte im Osten, sie spielt in Leipzig, gerade hat Müllensiefen dafür den Uwe-Johnson-Förderpreis erhalten. Nun erzählt der Autor von einem Ort, der jenem ähnelt, in dem er aufwuchs. Die Orte in der Altmark sind wiedererkennbar (Altenwedel = Salzwedel).

Rassistische Pogrome

Innerhalb dieses eng gesteckten Figurenensembles verhandelt Müllensiefen fast alle Ost-Diskurse, über die gerade ganz Deutschland spricht: das Erbe der Neunziger und der rassistischen Pogrome von damals, die Verödung und Vernachlässigung der Provinz, die Bildungsmisere, die Lohn- und Erbungerechtigkeit, den offenen Rassismus heute, die Perspektivlosigkeit einer – überwiegend männlichen – Lost Generation.

Dramaturgisch ist das Buch perfekt gebaut, einem Roadmovie ähnlich, bei dem man ständig durch Schlaglöcher brettert. Protagonist Marcel steuert darin in der Gegenwart auf viele Begegnungen zu, bei denen er mit seiner Vergangenheit aufräumt: Er trifft auf seinen Vater Ralf, auf Dirk, auf Steffi und auf Steffis Sohn Yanko, von dem er nicht weiß, ob er ihn damals gezeugt hat, bevor Steffi abgehauen ist. Yanko wiederum ist das große Nachwuchstalent des FCM.

Da fügt sich wirklich alles ineinander, die Konfrontationen und Dialogszenen sieht man wie in einem Film vor sich. Das Leitmotiv Auto zieht sich durch den Roman, es steht hier für die Möglichkeit, abzuhauen, für Arbeitsplätze (Marcel jobbt in einer Kfz-Werkstatt in Altenwedel), für ein Instrument, um sich selbst zu fühlen, für ein Todeswerkzeug.

Vor 1989 wurden die Weichen für die rassistischen Anschläge der Neunziger und der Folgezeit gestellt, diese These legt der Roman nahe. So wurde Dirk schon in der DDR zum Nazi: „In diesem antifaschistischen Staat hätte es [für Dirk] nur eine Möglichkeit von echter Opposition gegeben: Faschist werden. Haare abscheren, Hitlergruß zeigen, Kubaner und Mosambikaner verprügeln, beim Fußball für Angst und Schrecken sorgen“.

„Ich will Spaß“

Zu Songs wie „Ich will Spaß“ hätten er und seine Freunde in der Jugend den Hitlergruß gezeigt und „Deutschland, Deutschland, hörst du mich?“ gesungen. Man muss unweigerlich an Gigi D’Agostino und an die ekelhaften Gesänge bei der AfD-Wahlparty in Potsdam denken. Die Figur Dirk ist gut gezeichnet, Dirk hält das heutige Gesamtdeutschland für einen genauso ideologischen Staat wie die DDR.

Diese Passagen sollte man genau lesen, denn so sehen sich junge Rechte wohl derzeit auch: als Oppositionelle gegen ein gleichgeschaltetes Land, das Medien wie Nius zeichnen, das die AfD auf Tiktk fantasiert. Dass es mit der Wirklichkeit wenig zu tun hat, ist egal, das rebellische Identifikationsangebot zieht bei den Jungen.

„Schnall dich an, es geht los“ steht in einer Reihe von Ost-Romanen (Daniel Schulz, Hendrik Bolz, Anne Rabe oder auch Clemens Meyer), die, nebeneinander gelegt, ein realistisches Bild der neunziger und nuller Jahre in Ostdeutschland zeichnen. Müllensiefens Roman hat dazu diese Gegenwartsebene, die Sujets sind sowieso leider sehr gegenwärtig. Am Ende der Erzählung steht immerhin ein bisschen Hoffnung, als Rückkehrerin Steffi ein Kulturhaus in Jeetzenbeck kauft, als auch so etwas wie persönliche Aufarbeitung stattfindet.

Erzählt ist dieser Roman rasant, fast brillant; man will als Le­se­r:in jederzeit wissen, wie es weitergeht. Das ganze Setting geht dagegen fast zu gut auf in diesem Roman, es gibt kaum Figuren, die überraschen oder Überraschendes tun. Auch dass am Ende des Buchs eine Art Moral steht („Wir brauchten mehr Menschen wie Emilio in unserem Dorf und deutlich weniger Dirks und Ralfs“), wirkt überflüssig. Über diese kleinen Schwächen kann man allerdings angesichts der soghaften Handlung gut hinwegsehen.

Einmal zahlen
.

Fehler auf taz.de entdeckt?

Wir freuen uns über eine Mail an fehlerhinweis@taz.de!

Inhaltliches Feedback?

Gerne als Leser*innenkommentar unter dem Text auf taz.de oder über das Kontaktformular.

Bitte registrieren Sie sich und halten Sie sich an unsere Netiquette.

Haben Sie Probleme beim Kommentieren oder Registrieren?

Dann mailen Sie uns bitte an kommune@taz.de.