Nach russischen Angriffen auf Stromnetz: Angst vor dem ukrainischen Winter
Viele Ukrainer*innen wissen nicht, wie sie die kalten Monate überleben sollen. Sie brauchen Solarzellen, Windräder – und offene Arme.
![Ein zerstörter Transformator steht in einem der Umspannwerke von «Ukrenergo» Ein zerstörter Transformator steht in einem der Umspannwerke von «Ukrenergo»](https://taz.de/picture/7300388/14/35955263-1.jpeg)
N astja ist verzweifelt. Die 26-jährige Zahnarzthelferin hat Angst. Angst vor dem Winter, Angst vor dem Alleinsein, Angst vor den Luftangriffen, Angst vor schlechten Nachrichten, Angst vor einer kalten Wohnung. Vor fünf Wochen wurde ihr Freund auf der Straße in einen Bus gezerrt. Er muss zum Militär, genauer gesagt, in den Krieg, oder wie man in der Ukraine sagt, an „die Null“, wie die Front genannt wird.
„Er ist praktisch mit den Sachen, die er am Leib hatte, zum Militär“, sagt sie. Nicht einmal verabschieden habe sie sich noch von ihm können. Und nun ist auch ein Verdiener weniger in der Wohnung. Sein Zimmer wird sie wohl untervermieten müssen, alleine kann sie die Miete nicht stemmen.
Oles will umziehen. Er wohnt mit seiner Familie in einem Vorort von Kyjiw. „Meine Wohnung liegt genau in der Flugschneise der Drohnen, die von Russland Richtung Schitomir fliegen. Ich will das meinen Kindern nicht mehr zumuten“, sagt er. Nun werde er sich eine andere Wohnung suchen: In Kyjiw hat sich inzwischen herumgesprochen, wo es ruhiger ist und wo die Gefahr am höchsten ist.
In den früher so beliebten Penthouse-Wohnungen will niemand mehr leben. Am beliebtesten sind Wohnungen im Erdgeschoss. Denn dort fliegen seltener Raketen oder Drohnen rein. Noch besser sind Häuser mit eigener Tiefgarage. Das sind gute Schutzbunker. Manch einer zieht aufs Land, wo er einen Garten für Gemüse hat und eine Fläche für eine Solaranlage.
Hier sieht alles ungewohnt aus? Stimmt, seit Dienstag, 15.10.2024, hat die taz im Netz einen rundum erneuerten Auftritt. Damit stärken wir, was die taz seit Jahrzehnten auszeichnet: Themen setzen und laut sein. Alles zum Relaunch von taz.de, der Idee dahinter und der Umsetzung konkret lesen Sie hier.
Strominfrastruktur im Visier
Jeder versucht, auf seine Weise zu überleben. Oder zumindest gut über den Winter zu kommen. Und weil Russland viele Kraftwerke durch Luftangriffe bereits zerstört und auch weitere Teile der Strominfrastruktur im Visier hat, wird das nicht einfach sein.
Die Ukraine braucht deshalb jetzt Hilfe bei ihrer Energieversorgung. Und die kann nur mit dezentraler und umweltfreundlicher Energie, mit Solaranlagen und Windkrafträdern produziert werden. Es ist deshalb nicht verständlich, warum die ukrainische Regierung, aber auch die der westlichen Bündnispartner nicht darauf setzen, in der Ukraine verstärkt Wind- und Solarenergie zu fördern und einzusetzen. Ansonsten drohen weitere und längere Stromausfälle, die auch andere Gefahren mit sich bringen.
Dieses Thema treibt zurzeit viele im Land um: „Wenn wir nur vier Tage in Kyjiw gar keinen Strom haben, also einen vollkommenen Blackout, kommt es zu Plünderungen“, ist sich Sergiy sicher. „Ich verstehe unsere Regierung nicht. Warum müssen die ausgerechnet jetzt neue AKWs bauen“, sagt er weiter.
Abgesehen von den Gefahren, die jeder Ukrainer noch von Tschernobyl her kennt, sind AKWs zentrale Ziele, die die russischen Drohnen und Raketen ohne Schwierigkeiten zerstören könnten. „Und außerdem dauert der Bau eines AKWs mindestens fünf Jahre“, kritisiert Sergiy. „Wir brauchen die Energie aber jetzt. Und ich hoffe sehr, dass dieser Krieg in fünf Jahren Vergangenheit ist.“
Atomkraftwerke als Ziel
„Wir werden alle ein richtiges Problem haben, wenn die Russen unsere Atomkraftwerke angreifen“, sagt Iryna. Letztendlich braucht man gar nicht den Reaktor zu treffen. Es reicht, wenn die Russen die Leitungen, die ein AKW mit dem Stromnetz verbinden, zerstören. Denn dann muss das AKW eine Schnellabschaltung machen, und solche Schnellabschaltungen sind immer mit Risiken verbunden. Und wenn die Russen so etwas bei mehreren AKWs gleichzeitig machen, bricht das Stromnetz landesweit zusammen.
„An Drohnen und Raketen und Stromausfälle kann man sich gewöhnen“, sagt hingegen Nelia. „Doch woran ich mich nicht gewöhnen kann, das sind die ständigen Nachrichten von Männern, die wieder an der Front ums Leben gekommen sind.“ Jeden Tag höre sie solche Geschichten in ihrem Bekanntenkreis. „Und das zermürbt mich.“
Niemand weiß, wie die Menschen in der Ukraine den langen Winter überstehen werden. Doch einfach daneben stehen und abwarten geht nicht. Sie brauchen Solarzellen, Windräder, preisgünstigen Strom, und offene Arme, wenn sie bei uns in Deutschland überwintern wollen.
40.000 mal Danke!
40.000 Menschen beteiligen sich bei taz zahl ich – weil unabhängiger, kritischer Journalismus in diesen Zeiten gebraucht wird. Weil es die taz braucht. Dafür möchten wir uns herzlich bedanken! Ihre Solidarität sorgt dafür, dass taz.de für alle frei zugänglich bleibt. Denn wir verstehen Journalismus nicht nur als Ware, sondern als öffentliches Gut. Was uns besonders macht? Sie, unsere Leser*innen. Sie wissen: Zahlen muss niemand, aber guter Journalismus hat seinen Preis. Und immer mehr machen mit und entscheiden sich für eine freiwillige Unterstützung der taz! Dieser Schub trägt uns gemeinsam in die Zukunft. Wir suchen auch weiterhin Unterstützung: suchen wir auch weiterhin Ihre Unterstützung. Setzen auch Sie jetzt ein Zeichen für kritischen Journalismus – schon mit 5 Euro im Monat! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
„Edgy sein“ im Wahlkampf
Wenn eine Wahl als Tanz am Abgrund verkauft wird
Denkwürdige Sicherheitskonferenz
Europa braucht jetzt Alternativen zu den USA
Tabubruch der CDU
Einst eine Partei mit Werten
Verlierer der Wahlrechtsreform
Siegerin muss draußen bleiben
Tod von Gerhart Baum
Einsamer Rufer in der FDP-Wüste
+++ Nachrichten zur Ukraine +++
Gespräche bei der Sicherheitskonferenz