Alltagsbeobachtungen: Ich will mit den Dingen sein

Unser Kolumnist taucht ein in das Chaos des Alltags. Er ist auf der Suche nach einem Weg, mit der Welt zu verschmelzen.

Eine Fliege sitzt auf einer grauen Oberfläche

Die Fliege als kleines Puzzleteil unserer Wirklichkeit Foto: Imago

Dinge schleichen sich in mein Leben, meistens unbemerkt. Wandeln als Eindrücke von gestern durch meinen Körper wie Geister. Die benutzte Spritze in der Ecke des Hausflurs. Die Ampel ist rot. Autos dröhnen. Das Abendessen einer Freundin bekommt 14 Likes nach 49 Minuten. In den Büros atmen Menschen in vollen Zügen. Der plötzliche Vibe-Shift im ICE, als es heißt, Taschendiebe seien im Zug.

Strange Fragmente einer wahnsinnigen Realität. Sie performen die nervöse Choreografie eines Skripts. Weißt du, was ich meine? Dann landet eine Fliege auf meiner Schulter. Kaffee spritzt auf mein T-Shirt. Ha, das Tier hatte bis gerade nichts mit mir zu tun und jetzt drängt es sich in meine Welt. Als würde es mir was sagen wollen.

Da war ich doch so schön dabei, mir die Eindrücke zu einem Krimi zurechtzuspinnen. Das innere Doom-Scrol­ling knüpft einen Zusammenhang zwischen beschissen und banal. Nimmt mich jemand in den Arm?

Ich frage mich, woher das kommt. Das Ich, das sich als Mittelpunkt der Welt verortet und immer von sich auf andere Dinge schließt. Aus der Aufklärung, die sich bekanntlich einbildet, mit Vernunft über die Welt triumphiert zu haben? Bevor dieser Triumph zu einer Angst geführt hat, die ein Bedürfnis nach Verwurzelung hervorrief?

Gestresst von der Wirklichkeit

Keine Ahnung. Mein Nervensystem streamt die Wirklichkeit ohne Werbeunterbrechung. Die Narrative haben 24/7 Zugang zu mir, mein Körper ist ein Kanal, durch den sie kursieren, sie wollen, dass ich gestresst bin – und blind dafür, dass auch alles anders sein könnte. Das macht mir Angst. Nichts kommt aus einem Vakuum. Ich kam aus dem Bauch meiner Mutter in eine Welt, die mir lange vorausging und mich dennoch bereits gemacht hat.

Vielleicht liegt es an meinem Soziologiestudium. Der totale Brainfuck. Seit ihr Programm installiert ist, traue ich meinem subjektiven Blick nicht mehr über den Weg. Da ist dieser Splitscreen. Hier das unschuldige kleine Ich, da die böse große Gesellschaft.

Auch Medien konstruieren Ereignisse oft als kausal aufeinanderfolgende Reihe. Einzelnes, Individuelles wird zur allgemeinen Form, die auf ein Problem verweisen.

Die Dinge sind umstellt von unbarmherzigen Vergleichen. Klar sehnen die sich dann nach festen Bedeutungen und einer Wirklichkeit, die einem Ikea-Schrank ähnelt – ein Kompromiss aus schlechter Qualität und okayem Design.

Den distanzierten Blick hinter sich lassen

Ich will mir diesen Blick abtrainieren. Diesen distanzierten, arroganten, patriarchalen Blick, der die Zusammenhänge schon zu kennen glaubt, bevor er sie sieht; der immer nur über die Dinge spricht. Ich will mit den Dingen sein. Das ist superschwer.

Wirklichkeit ist dann vielleicht nicht mehr wie der Ikea-Schrank – ein Kompromiss aus schlechter Qualität und okayem Design.

Sie ist die Einzelteile des Schranks – und die Schraube, Nieten, die Verbindungen dazwischen. Ist die Metapher scheiße? Sollte die Wirklichkeit nicht viel größer und komplexer sein, als es ein Vergleich fassen kann? Manchmal, wenn ich spazieren gehe in Berlin oder sonst wo, glaube ich, Zusammenhänge als vorläufige Skizzen der Wirklichkeit zu erkennen – und ihr Potenzial, neue zu zeichnen.

Dabei Musik hören, das ist der Shit. Verschmelzen mit Schönheit, während die Dinge um mich herum irgendwas Alltägliches machen. Ich danke der Fliege von ganzem Herzen.

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Philipp Rhensius ist Autor, Soziologe, Journalist, Musiker und Editor von Norient. Seine Arbeiten sind angetrieben von der Idee, dass das Fühlen der Ketten der erste Schritt zur Emanzipation ist. Seit Herbst 2024 schreibt er die taz-Kolumne "Was macht mich" - mal poetisch, mal politisch, mal wtf!?

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