Neuer Roman von Joshua Groß: Vermessung der Kontaktzonen

Die Bewahrung der Natur und die Rettung des menschlichen Selbst – hängt das zusammen? Autor Joshua Groß geht der Frage im Roman „Plasmatropfen“ nach.

Sechs Menschen besteigen einen schneebedeckten Berg

Wie viel ist ein kleiner Mensch der großen Welt schuldig? Bergsteiger in den französischen Alpen Foto: Ash­ley Cooper/Cavan Images/laif

Der Klimawandel übt nicht nur Druck auf Politik, Wirtschaft und Wissenschaft aus, sondern auch auf die Literatur. Als Beschreibungskunst sieht sich vor allem die Prosa herausgefordert, die planetare Krise in Geschichten nachzuvollziehen, wenn nicht sogar Spekulationen über mögliche Zukünfte anzustellen. Daher rührt die Konjunktur des Nature Writings auf der einen sowie ein beharrliches Interesse an utopischen, meist aber dystopischen Entwürfen auf der anderen Seite.

Beide Spielarten eint ihre didaktische Tendenz. So beschreiben die Protagonisten des Nature Writings nicht nur eine Veränderung von Landschaften, sondern verbinden diese Beschreibung als eine des Verfalls zumeist mit einer Anklage. Wahlweise ist der Kapitalismus, der Westen, das Individuum schuld an der Misere. (Als wüsste man es nicht!)

Auch jene Poetiken, die sich mehr für die Spekulation, für die Zukunft der Erde interessieren, beziehen oft eine moralische Position und verdammen in der Rückschau Praxen des Wirtschaftens und Konsumierens, die zu der nun genüsslich geschilderten Katastrophe geführt haben.

Oder aber, was erfreulicher ist, die Autoren neigen eher den positiven Potenzialen der Science-Fiction zu und stiften wenigstens in künftigen Gesellschaften Hoffnung, derweil in der Gegenwart nur die Auswahl zwischen Verzicht oder Bezichtigung, zwischen schlechtem Gewissen oder Ignoranz bleibt. Auch für die Utopien aber gilt, wie für die meisten literarischen Reaktionen auf den Klimawandel, dass sie sich meist nicht für den Menschen interessieren, sondern immer nur für seine soziale, ökonomische oder politische Rolle im ökologischen Endspiel.

Joshua Groß: „Plasmatropfen“. Matthes & Seitz, Berlin 2024, 263 Seiten, 24 Euro

Die Krise persönlich nehmen

Der 1989 geborene Schriftsteller Joshua Groß hingegen nimmt die Krise maximal persönlich. Die Figuren seiner Romane sind oftmals auf eine verborgene Weise mit ihrer Umwelt verbunden und kommen daher gar nicht erst in die Verlegenheit, den Planeten mit den gleichen schrecklich langweiligen Mitteln retten zu wollen, auf die wir, also alle jenseits der Buchdeckel, zurückgreifen müssen.

Für Groß’ Personal ist die Bewahrung der Natur stattdessen mit der Rettung des Selbst gleichbedeutend, das Wort Treib­haus­gas reimt sich bei ihm auf Herz. Der stets gut gelaunte Sound seiner Bücher, die erwachsene Lockerheit seines Tons täuschen nicht darüber hinweg, dass hier ein Romantiker am Werk ist, ein Künstler, der nicht an eine Differenz zwischen Innen- und Außenwelt glaubt.

In seinem neuen Roman „Plasmatropfen“ bringt er das auf spielerische, ja fast ein bisschen simple Weise zum Ausdruck. Eine der Hauptfiguren ist der Seismologe Lenell, der in der griechischen Kleinstadt Egio über die Verwerfungen wacht, die durch das Aufeinandertreffen von Erdplatten an dieser Stelle entstehen.

Er ist mithin der erste Wächter über eine Unordnung in der Tiefe, während in ihm selbst viel größeres Chaos herrscht. Nach einer furchtbaren Kindheit als Sohn einer Alkoholikerin ist Lenell schwer depressiv und akut selbstmordgefährdet.

Mit Telekinese den Verfall stoppen

Seine Partnerin, die erfolgreiche Künstlerin Helen, pflegt noch engere Kontakte zur Natur. In der holländischen Küstenstadt Lelystad, wo sie gerade eine Ausstellung vorbereitet, meint sie am Himmel „Normalnull“ zu erkennen, also das Niveau des Meeresspiegels. Aber sie sieht nicht nur die Zeichen der drohenden Katastrophe, die Lelystad im Verlauf des Romans tatsächlich erreicht, sie ist auch noch mit einer deutlich spektakuläreren Gabe ausgestattet. Helen hat telekinetische Fähigkeiten, sie kann Zustände umkehren oder einen Verfall stoppen.

Immer wieder reist sie deshalb in den tauenden Permafrost, um kleine Stücke der dortigen Böden wieder gefrieren zu lassen. Üblicherweise aber führt sie ein ganz normales Leben, reist, widmet sich der Kunst und ihrer Partnerschaft. Müsste sie nicht viel mehr ihrer Kraft und Zeit für den Erhalt der Umwelt einsetzen? Geht ihre Gabe nicht mit einer Verantwortung daher? Oder abstrakter ausgedrückt: Wie viel ist ein Mensch der Welt schuldig?

Noch beharrlicher als in Bezug auf den Permafrost fühlt sich Helen mit diesen Fragen konfrontiert, als Lenell sie darum bittet, ihre Kraft einzusetzen, um ihn von seiner Depression zu heilen. Sie würde auf diese Weise sein Leben retten, ahnt aber auch, dass ihr Partner daraufhin ein anderer Mensch und ihre gemeinsame Zeit vorbei wäre.

Derweil kündigen sich noch weitere Beziehungsprobleme an. Denn Lenell hat sich in jemand anderen verliebt. Das Objekt der Begierde heißt „Spechtmensch“ und ist auch einer. Er hat den Körper eines Menschen und den Kopf eines Spechts. Die Chimäre wohnt in einem großzügigen Anwesen in der Nähe des Hauses von Helen und Lenell, wo sie sich an der Aufzucht ausgestorbener Urwaldbäume versucht, Insekten jagt und an seinem Privatstrand surfen geht.

Die interspezifische Affäre bahnt sich ohne größere Komplikationen an. Wenn sie Basketball spielen, zieht sich Spechtmensch einen Schnabelschutz auf, um Lenell nicht versehentlich zu verletzen, und nach dem Sex schläft er aus demselben Grund von diesem abgewandt.

Mythologisches zieht in den Roman ein

Wer noch nichts von Joshua Groß gelesen hat, wird es nun erahnen: So entschlossen er sein poetologisches Programm verfolgt, so viel Freude hat er auch an den frivolen Möglichkeiten des Schreibens. Man ahnt und versteht, dass Joshua Groß sehr gerne Schriftsteller von Beruf ist, und fühlt sich wohltuend daran erinnert, dass Literatur mit Originalität zu tun hat und die wunderbare Gelegenheit bietet, in Büchern etwas anderes vorzufinden als in der oftmals – seien wir ehrlich – ziemlich flachen Wirklichkeit.

Mit der Chimäre auf der griechischen Insel zieht nun auch die Mythologie ein in diesen Roman. Allerdings nicht als eine weitere Ebene, die zum realistischen Setting (Liebesgeschichte) mit fantastischen Zügen (Telekinese) hinzukäme.

Nein, hier fügt sich einfach, was für gut 250 Seiten zusammengehören soll. Es lohnt im Übrigen nicht, darüber zu spekulieren, wie Spechtmensch zu seinem Schnabel kam oder woher Helen ihre magischen Fähigkeiten hat. Stattdessen heißt es, keine Zeit zu verlieren und lieber zu beobachten, welche neuen Verbindungen und Potenziale sich hier ergeben.

Intellektuelle Provisorien

Groß interessiert sich sehr für intellektuelle und künstlerische Provisorien, das heißt für alles, was noch nicht zu Ende ist, noch nicht zu Ende gedacht, gebaut und gelebt. Helen besucht schließlich ein ehemaliges Einkaufszentrum in Lelystad, das von Autonomen besetzt und noch nicht evakuiert wurde, da die ganze Gegend überschwemmt ist.

In diesem Setting, in denen andere Autoren von der Apokalypse erzählen würden, deutet sich für Groß’ Hauptfigur ein neues Leben an. Damit ist keine Botschaft verbunden, „Plasmatropfen“ ist kein politischer Roman, sehr wohl aber rührt er an eine Ethik.

Der Autor erkundet die Übergänge, die Räume und Möglichkeiten zwischen emotionalen und magischen Kapazitäten, Hoffnung und Depression, Wissen und Mythos, zwischen einem Menschen und dem Beginn dessen, was dieser mit einem anderen teilt. Letztlich geht es in „Plasmatropfen“ um die Vermessung von Kontaktzonen, darum, wie man sich begegnet und wie und wann man am besten Abschied voneinander nimmt.

Besonders ist, dass diese Reflexionen zu Beziehungen, Wahrnehmung und mentaler Gesundheit mit dem Zustand von Erdplatten, Permafrostböden und dem Meeresspiegel parallelisiert werden. Nicht nur die Seele, auch der Planet ist in Unordnung. Liest man Groß, kommt man auf Ideen, wie beides miteinander zu tun haben könnte.

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