Kritik am System der Jugendhilfe: „Ich dachte, ich bin falsch“

Sozialwissenschaftlerin Michaela Heinrich-Rohr lebte in einer Jugendwohngemeinschaft. Heute lehrt sie Soziale Arbeit – und kritisiert die Jugendhilfe.

Porträt von Michaela Heinrich-Rohr.

Michaela Heinrich-Rohr lebte als Kind in einer Jugendwohngemeinschaft; heute lehrt sie Soziale Arbeit in Schleswig-Holstein Foto: Anja Weber

taz: Frau Heinrich-Rohr, Sie sind Careleaver, was bedeutet das?

Michaela Heinrich-Rohr: Careleaver sind Menschen, die einen Teil ihres Lebens in einer Pflegefamilie oder einer Einrichtung der Jugendhilfe verbracht haben und diese auf dem Weg in ein eigenständiges Leben wieder verlassen. Careleaver ist darüber hinaus eine Selbstbezeichnung für die Zeit danach. Auch wenn man wie ich etwas älter ist, darf man sich so nennen.

taz: Warum der englische ­Begriff?

Heinrich-Rohr: Die Bewegung kommt aus dem englisch­sprachigen Raum. Careleaver ist sehr identitätsstiftend und weniger negativ besetzt als der Begriff Heimkind. Das wissen wir sowohl aus der Literatur als auch aus eigenen Erfahrungen. Heimkinder unterliegen einem negativen Stigma. Es gibt den Spruch: „Wenn du nicht lieb bist, kommst du ins Heim.“ Da kann es nichts Gutes sein.

Michaela Heinrich-Rohr, 43, wuchs als Kind von Eltern mit Heimerfahrung in Neukölln auf und lebte als Jugendliche in einer Jugendwohnung. Derzeit wohnt sie mit Frau und Kind in Friedrichshain-Kreuzberg. Nach einer Ausbildung zur Erzieherin studierte sie Soziale Arbeit und arbeitete als Sozialarbeiterin und später als wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Charité in Berlin. Bis September war sie Professorin für Soziale Arbeit an der Dualen Hochschule Schleswig-­Holstein in Kiel. Sie plädiert für eine Forschung aus der Perspektive der Betroffenen.

taz: Wie kamen Sie in die Jugendhilfe?

Heinrich-Rohr: Ich wurde 1981 im Arbeiterviertel Berlin-Neukölln geboren. Meine Eltern waren noch sehr jung. Und beide waren Heimkinder, hier nutze ich dieses Wort, weil die Bedingungen andere waren. Mein Vater kam in den 1960er Jahren schon sehr früh in ein katholisches Kinderheim, weil es in seiner Familie schwerste Kindesmisshandlung gab. Und meine Mutter war mit 15 Jahren von zu Hause weggelaufen und flüchtete zur Heilsarmee. Beide waren völlig auf sich allein gestellt und hatten keine familiäre Unter­stützung. Sie hatten keinen Schul- und Berufsabschluss. Das waren schwere Bedingungen, ein kleines Kind großzuziehen.

taz: Besuchten Sie eine Kita?

Heinrich-Rohr: Nein, ich ging in keine Kita. Als ich zwei war, zogen wir in eine Souterrainwohnung an einer stark befahrenen Hauptstraße. Vor meinem Kinderzimmerfenster verrichteten Hunde ihr Geschäft. Für mich als Kind war das nicht schlimm. Aber später, wenn ich Freunde mit nach Hause nehmen wollte, wurde das schwierig. Obwohl meine Eltern mir das größte Zimmer gaben und alles versuchten, mir ein besseres Leben zu ermöglichen.

taz: Waren Sie ein Einzelkind?

Heinrich-Rohr: Ja. Und meine Eltern wollten es mit mir besser machen als ihre Eltern mit ihnen. Aber dafür fehlte ihnen die nötige Unterstützung. So holten sie die alten Geister immer wieder ein. Das prägte unser Familienleben.

taz: Können Sie ein Beispiel dafür geben?

Heinrich-Rohr: Meine Eltern wurden schwer misshandelt. Ich wurde nicht geschlagen. Aber mir ging es aus anderen Gründen oft sehr schlecht. Sie griffen auf andere Verhaltensweisen zurück, die mir die Entwicklung eines positiven Selbstbildes erschwerten. Ein Problem ist hier das Bild vom Kind.

taz: Das Kind ist immer schuld?

Heinrich-Rohr: Ja, das Gefühl, dass das Kind mir Böses möchte und mich nicht ernst nimmt. Aus heutiger Sicht denke ich, meine Eltern hatten keinen wirklichen Kontakt zu ihrem eigenen inneren Kind. Und weil ihre traumatischen Erlebnisse ohne professionelle Unterstützung nicht aufgearbeitet wurden, war es ihnen kaum möglich, eine gesunde Beziehung zu mir als Kind aufzubauen. Dies wurde immer problematischer, je älter und autonomiebedürftiger ich geworden bin.

taz: Als Sie zur Schule kamen?

Heinrich-Rohr: Ich muss sagen, meine Eltern versuchten trotz alledem das Bestmögliche. Meine Mutter war Hauswartin und machte Mietshäuser sauber und ich half hier und da. Als ich in die Vorschule kam, empfahl die Erzieherin, mich auf eine Sprachförderschule zu schicken. Das war für meine Mutter schlimm. Sie war auf einer Sonderschule gewesen und hatte große Angst, dass ich da auch hinmuss. Sie ging mit mir zum Kinder- und Jugendgesundheitsdienst und dort wurde ich getestet. Ergebnis war, dass ich logopädische Unterstützung benötigte. Daraufhin ging meine Mutter mit mir regelmäßig zur Logopädin und das Thema war vom Tisch.

taz: Eine starke Leistung Ihrer Mutter.

Heinrich-Rohr: Ja. Ich wiederholte die Vorschule, begann viel zu sprechen und kam in die Grundschule. Das war die schönste Zeit meines Lebens. Ich weinte, wenn Ferien waren. Da bekam ich die Anerkennung, die mir damals fehlte. Meine Klassenlehrerin sah mein Potenzial, das spürte ich und ich liebte sie über alles. Ich hatte gute Noten und Ehrgeiz und dann ging ich aufs Gymnasium. Ich wollte unbedingt dort hin. Die Zeit wurde hart.

taz: In welcher Weise?

Heinrich-Rohr: Zu Hause warfen meine Eltern mir vor, ich hielte mich für was Besseres. Das schmerzte sehr. Und auf dem Gymnasium war ich die, die nicht dazugehörte. Die Mädels gingen reiten und die Jungs riefen: „Na, treffen wir uns nachher auf dem Golfplatz?“ Das war mir so fremd, so fern. Und ich in meiner Souterrainwohnung, das war ganz merkwürdig. Ich bekam am Gymnasium auch hier und da mal unberechtigterweise schlechtere Noten. Heute sage ich, da war klar Klassismus im Spiel. Man hört nicht mehr, dass ich aus Berlin bin. Ich musste meinen ganzen Habitus ändern, um irgendwie dazuzugehören. Ich dachte immer, ich bin falsch.

taz: Auch im Unterricht?

Heinrich-Rohr: Ja. Eine Situation, die sich mir einprägte, war, als ich in der 9. Klasse ein Referat zum Nationalsozialismus halten sollte. Man hatte mir nie gezeigt, wie das geht. Und in Bibliotheken gingen meine Eltern mit mir nie. Aber ich gab mir große Mühe. Ich lieh mir Bücher aus und erstellte Overhead-Folien für meinen Vortrag. Ich stellte mich vorne hin und präsentierte meine Folien. Ich bekam eine sechs.

taz: Und mit welcher Begründung?

Heinrich-Rohr: Ich weiß es nicht. Es war still danach. Der Vortrag war vermutlich schlecht, aber keine sechs. Danach traute ich mich bis zum mündlichen Abitur nicht wieder, vor anderen zu sprechen. So war die Gymnasialzeit. Mir ging es schlecht. Die Lehrer ignorierten meine Hilferufe oder erkannten diese nicht. Ich erinnere eine Situation, da brach ich heulend zusammen. Da brachten sie mich ins Erste-Hilfe-Zimmer und das war es. Es gab keine Gespräche.

taz: Wann gingen Sie zum Jugendamt?

Heinrich-Rohr: Mit 14. Die schwierige Familiengeschichte, die Schule, das hat sich alles verstärkt. Ich ging – unterstützt durch eine Nachbarin und spätere Freundin – zum Jugendamt und sagte: Ich kann nicht mehr. Ich will nicht mehr zu Hause leben. Ich schaffe auch so mein Abitur nicht. Aber die Sozialarbeiterin des Jugendamtes sagte nur: Gut, dass du hier bist, aber du musst mit deinen Eltern kommen. Die müssen das unterschreiben.

taz: Wie reagierten Ihre Eltern darauf?

Heinrich-Rohr: Gar nicht. Ich wusste, ich konnte meinen Eltern nichts Schlimmeres antun, als mich an das Jugendamt zu wenden. Da gab ich die Sache erst mal auf. Dabei kam die Dame des Jugendamtes damals ihrer Informationspflicht nicht nach. Es ist formal richtig: Eltern müssen den Antrag auf Erziehungshilfe unterschreiben. Aber sie hätte mir sagen müssen, dass ich auch in einen Notdienst hätte gehen können, und mich über andere Beratungsmöglichkeiten aufklären müssen.

taz: Sie schafften es nicht, Ihren Eltern davon zu erzählen?

Heinrich-Rohr: Das konnte ich nicht. Ich wusste von ihrer Heimgeschichte. Und ich wusste nicht, was passiert. Ich hatte Angst. Meine Eltern waren zu der Zeit unberechenbar. Aber es blieb zu Hause ganz schlimm. Aus diesem Grund ging ich – wieder unterstützt durch meine Nachbarin – mit 15 noch mal hin und holte mir einen Termin. Ich ging nach Hause und sagte meinen Eltern: „Ich war beim Jugendamt, ich will hier nicht mehr leben. Wir haben in zwei Wochen einen Termin.“ Das wurden die schlimmsten zwei Wochen meines Lebens.

taz: Ihre Eltern fühlten sich verraten?

Heinrich-Rohr: Natürlich. Das riss alle Wunden auf. Es war der größte Verrat, aber wir gingen tatsächlich alle drei zum Jugendamt. Am Ende des Tages unter vielen Tränen meiner Mutter und mir unterschrieben meine Eltern den Antrag und ich zog in eine betreute Wohngemeinschaft.

taz: Wie war es da?

Heinrich-Rohr: Das war ebenfalls eine sehr intensive Zeit. Es war eine Wohngemeinschaft für Jugendliche zwischen 15 und 17 Jahren. Die Be­treue­r*in­nen kamen nur mittags bis abends. Am Wochenende war keiner da. Sechs junge Menschen in so einer Wohngemeinschaft. Sorry, das kann nur schiefgehen. Und wie es halt immer ist in so einer „Zwangsgemeinschaft“, wurde ich erst mal getestet. Das war nicht schön. Die merkten aber schnell, dass ich mich wehren konnte.

taz: Was heißt hier testen?

Heinrich-Rohr: Wo sind meine wunden Punkte? Sie warfen draußen mit Steinen nach mir und lachten, beispielsweise. Solche Spielchen. Oder Sachen wegnehmen und so weiter … So etwas kann in einer Wohngruppe, bei fehlender Begleitung und Unterstützung durch pädagogisches Personal, auftreten. Da war eine Mitbewohnerin, Merle*, die mich zum Glück unterstützte.

Dieser Text stammt aus der wochentaz. Unserer Wochenzeitung von links! In der wochentaz geht es jede Woche um die Welt, wie sie ist – und wie sie sein könnte. Eine linke Wochenzeitung mit Stimme, Haltung und dem besonderen taz-Blick auf die Welt. Jeden Samstag neu am Kiosk und natürlich im Abo.

taz: Die Erwachsenen nicht?

Heinrich-Rohr: Ich sprach schon mit den Betreuern. Das wurde dann deutlich später bei einem Gruppenabend thematisiert. In Ruhe ließen sie mich aber da schon zuvor. Das hatte ich insbesondere Merle zu verdanken.

taz: Wieso sagen Sie „Zwangsgemeinschaft“?

Heinrich-Rohr: Die Leute leben nicht freiwillig zusammen. Gefühlt war das für mich die einzige Wohngruppe, in der ich sein konnte. Und ich zog erst zu meinem 18. Geburtstag aus. Ich bekam die Geschichten der anderen mit, sah auch die Verläufe. Man sieht, was für Unrecht ihnen passiert ist und wie auch das Hilfesystem sie leider im Stich lassen kann. Ich hatte verdammt viel Glück. Merle hatte kein Glück. Sie ist heute am Kottbusser Tor und spritzt. Sie war eine tolle junge Frau, bei der das Hilfesystem versagt hat.

taz: Was hätte passieren müssen?

Heinrich-Rohr: Dass ich später mein Abitur schaffte, verdanke ich nur Christa, der Sozialpädagogin, die ich mit 18, als ich allein wohnte, zur Seite gestellt bekam. Ich verdanke es nicht den Be­treue­r*in­nen der Wohngruppe. Ein Betreuer saß nur im Betreuerzimmer und schrieb seine Diplomarbeit. Die andere erzählte mir von ihren eigenen Problemen. Das war eine emotional missbräuchliche Situation.

taz: Und Christa hat geholfen?

Heinrich-Rohr: Definitiv. Christa kam zweimal die Woche und sah nach dem Rechten. Ihr verdanke ich, dass ich Jugendhilfe bis 21 bekam. Der Kontakt besteht heute noch. Sie ist in meiner Familie Oma Christa. Ich sitze hier mit ein paar akademischen Titeln und muss sagen, nichts in meinem Leben war so herausfordernd wie dieses Abitur. Aber Jugendhilfe endet genau in dieser Phase zwischen 18 und 21. Das Jugendamt muss zwar Hilfe bis 21 gewähren, aber auch noch heute passiert das viel zu selten.

t az: Ihren damaligen Mitbewohnern fehlte diese Begleitung ins Erwachsenwerden?

Heinrich-Rohr: Ja. Es wird zu selten geschaut, ob ein Bedarf an Jugendhilfe besteht. Das Gesetz sieht vor, dass ein Jugendamt gut begründen muss, wenn es diese Hilfe nicht leistet. Aber in der Praxis ist es andersherum. Und wenn die Hilfe gewährt wird, dann gibt es noch heute zu oft die Situation, dass die jungen Menschen alle drei Monate zum Amt müssen, zitternd, ob die beantragte Hilfe weiter bewilligt wird und ob sie ihre wichtigste Bezugsperson verlieren. Seit Juni 2021 heißt es zwar im Gesetz, dass Hilfe für junge Volljährige gewährleistet werden „muss“. Die Gewährungspraxis hat sich aber noch nicht wirklich geändert.

taz: Wie half Christa bei Ihrem Abi?

Heinrich-Rohr: Sie fragte zum Beispiel, „Na, wann hast du denn deine Klausur, lass uns Vokabeln üben.“ Sie coachte mich. Und konnte sie nicht helfen, organisierte sie, dass jemand anderes es tat. Sie machte das, was Eltern tun. Christa hat für Nachhilfe eine Finanzierung organisiert, manchmal über das Jugendamt, in der Regel aber über Privatpersonen.

taz: Wie war der weitere Kontakt zu Ihren Eltern?

Heinrich-Rohr: Sie sind beide mit 56 Jahren gestorben. Meine Mutter vor fünf, mein Vater vor neun Jahren. Wir hatten noch ab und an Kontakt. Aber es erschwerten immer wieder destruktive Verhaltensmuster unser Miteinander, sodass ich überlegen musste: Halte ich das jetzt aus, damit ich den Kontakt habe, weil ich meine Eltern liebe, oder muss ich das abbrechen, weil mir der Kontakt nicht gut tut? Wohl wissend, dass sie mir nicht wirklich Böses wollten.

taz: Was hatte Ihr Vater im Heim erlebt?

Heinrich-Rohr: Ich erfuhr davon nur über meine Mutter. Meine Eltern erlebten beide schwere körperliche und seelische Misshandlungen. Sie in ihrer Herkunftsfamilie und mein Vater sowohl in seiner Herkunftsfamilie als auch im Heim.

taz: In den 1960ern war Gewalt gegen Kinder in Familien weit verbreitet.

Heinrich-Rohr: Dann können Sie sich vorstellen, was da alles passiert sein muss. Mein Vater wurde in einer Zeit, wo Gewalt in der Familie durchaus auch legitim war, aufgrund von Gewalterfahrungen aus der Familie rausgenommen.

taz: Es gab den Spruch: Kinder mit nem Willen kriegen was auf die Brillen.

Heinrich-Rohr: Ich hab zu Hause gehört: Kinder mit ’nem Willen kriegen Dresche, bis sie Brüllen.

taz: Kinder sollten nichts wollen.

Heinrich-Rohr: Es gibt ja immer wieder Überforderungssituationen, in die Eltern geraten können. Und wenn ein Mensch dann einfach nicht die Energie und die Ressource hat, alles ganz genau noch mal zu reflektieren, dann ist es nachvollziehbar, auf alte Muster zurückzugreifen. Dann rasten Eltern aus und schreien. Das kann und soll dieses Verhalten nicht rechtfertigen, ist aber ein möglicher Erklärungsansatz.

taz: Hätte bei Ihren Eltern El­tern­arbeit geholfen?

Heinrich-Rohr: Ja, Elternarbeit ist eigentlich Teil der Hilfe, Christa hatte einen großen Anteil dran, dass ich mit meinen Eltern auch immer wieder Kontakt hatte. Elternarbeit steht in der Jugendhilfe oft zu wenig im Fokus. Im Gegenteil. Kommen Kinder in Wohngruppen, gehört es in vielen Konzepten dazu, dass sie erst mal teilweise bis zu sechs Wochen keinen Elternkontakt haben dürfen, um „anzukommen“. Das ist meiner Meinung nach nicht bedarfsgerecht.

taz: Wie ging es nach dem Abi weiter? Sie studierten Physik?

Heinrich-Rohr: Ich hatte Physik-Leistungskurs gehabt und studierte Physik an der TU Berlin. Da gab es damals kaum Frauen. Das war eine intensive Erfahrung. Professoren wünschten Frauen an den Herd, Kommilitonen schauten sich bei Projektarbeiten Pornos an. Die Bedingungen waren so, dass sich Arbeiterkinder nicht wohlfühlten, also ich erst recht nicht. Ich musste das abbrechen. Und weil ich Angst hatte, den BAföG-Anspruch zu verlieren, wenn ich noch mal das falsche Fach wähle, absolvierte ich eine Er­zieher*in­nen­aus­bildung. Der soziale Bereich lag mir schon immer sehr am Herzen.

taz: Sie arbeiteten dann ja selbst in einer Jugendwohnung?

Heinrich-Rohr: Ja, arbeitete zwei Jahre in einer Wohngruppe für Kinder von sechs bis zehn Jahren, in der immer Erzieher vor Ort sind. Es war lehrreich, die andere Perspektive einnehmen zu können. Diese Zeit hat mich als pädagogische Fachkraft sehr geprägt. Ganz bewusst zu schauen, welche Macht und Handlungsmöglichkeiten bestehen, das Leben von Kindern positiv zu beeinflussen. Ich erlebte aber auch Grenzüberschreitungen von Kolleginnen.

taz: Waren die zu streng?

Heinrich-Rohr: Einen fünfjährigen Jungen auf dem Boden zu fixieren, sich draufzusetzen und zu lachen: „So, jetzt siehst du mal, wer hier stärker ist.“ Das ist für mich keine pädagogische Arbeit, sondern Gewalt.

taz: Sie studierten dann Soziale Arbeit. Konnten Sie Ihre Erfahrungen mit einbringen?

Heinrich-Rohr: Ja, sowohl im Rahmen des Studiums als auch in meiner Tätigkeit als Sozialarbeiterin, wissenschaftliche Mitarbeiterin und auch als Professorin. Aber es ist im beruflichen Kontext zwingend nötig, das Erlebte gut verarbeitet zu haben, um die nötige professionelle Distanz wahren zu können. Sonst besteht die Gefahr, die eigenen Probleme auf das Gegenüber zu projizieren. Nach dem Motto: Du brauchst gar nicht zu reden, ich kenne dein Problem.

taz: Was muss sich für Careleaver bessern?

Heinrich-Rohr: Junge Menschen ziehen im Durchschnitt mit 23,4 Jahren von zu Hause aus. Von Careleavern, die aus zerrütteten Familien kommen, die mit Traumata zu kämpfen haben, wird erwartet, dass sie mit 18 in eine eigene Wohnung ziehen. Das entspricht nicht der Lebensrealität der jungen Menschen. Aus diesem Grund bin ich der Meinung, dass Jugendhilfe bis 25 gewährt werden muss, sofern die betreffenden Personen denken, dass sie dies benötigen. Jugendhilfe kostet viel Geld und dennoch darf sie nicht zu früh abgebrochen werden. Das kann sonst zur Folge haben, dass junge Menschen ohne weitere Unterstützung einen Einbruch in ihrer Bildungsbiografie erleben. Auch wenn das kein Argument sein darf: Das kostet den Staat am Ende auch wieder Geld.

taz: Haben Sie Ihre Geschichte schon mal erzählt?

Heinrich-Rohr: Ja, ich versuche immer wieder, auf verschiedenen Veranstaltungen pädagogische Fachkräfte und Politik für dieses Thema zu sensibilisieren. Care­lea­ver haben viele Hürden zu meistern. Sie müssen sich mit Fragen auseinandersetzen, die anderen nicht in den Sinn kämen. Beispielsweise, wo verbringe ich mein erstes Weihnachten nach der Jugendhilfe? Wie beantrage ich BAföG, ohne die Eltern kontaktieren zu müssen? Oder bei der Beantragung von Bürgergeld kann es passieren, dass die Sachbearbeiterin sagt: Zieh doch zurück zu den Eltern.

taz: Was kann man da tun?

Heinrich-Rohr: Der Verein der Careleaver fordert die Einführung eines eigenen Rechtsstatus, „Leaving Care“, der klarstellt, dass sie keinen oder einen belastenden Kontakt zu ihren Eltern haben und nicht zur Kontaktaufnahme gezwungen werden dürfen. Kinder und Jugendliche, die unter schwierigen Rahmenbedingungen aufwachsen, sollten nicht darauf angewiesen sein, das Glück zu haben, einer Person wie Christa zu begegnen, um ihr volles Potenzial entfalten zu können. Ihr Weg zu einem erfüllten Leben darf nicht vom Zufall bestimmt werden.

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