: Endlich Gehör für die Verschickungskinder
Die Hamburger Sozialbehörde und die Ballin-Stiftung stellen eine Studie zu den Erfahrungen der Verschickungskinder vor. In den Heimen habe Angst geherrscht
Von Friederike Gräff
„Es hat sich doch gelohnt“, sagt ein Mann auf dem Flur zu einer Frau, die dort vor dem Büchertisch steht. „Es gab Entschuldigungen, die kann man hören und weitergeben.“ Tatsächlich entschuldigten sich sowohl die Hamburger Sozialsenatorin Melanie Schlotzhauer (SPD) als auch Jens Petri, der pädagogische Vorstand der Ballin-Stiftung beim Publikum. Das bestand vor allem aus ehemaligen Verschickungskindern, die die Hamburger Sozialbehörde zu Kuraufenthalten in Heime der Ballin-Stiftung geschickt hatte. Doch das, was Kur genannt wurde, erwies sich für viele als bittere bis traumatische Erfahrung.
Seit einigen Jahren bilden sich lokale Initiativen von ehemaligen Verschickungskindern, die sich auch bundesweit zusammenschließen und mit zunehmendem Erfolg Aufklärung darüber fordern, was zwischen 1945 und bis in die 90er Jahre in den Tausenden von Kinderheimen geschah, in denen acht Millionen Kinder eigentlich zur Erholung kamen. 2021 gaben die Hamburger Sozialbehörde und die Ballin-Stiftung gemeinsam eine Studie bei der Evangelischen Hochschule Hamburg in Auftrag – der offizielle Titel lautet „Erfahrungen und Hintergründe der Verschickungskinder in den Einrichtungen des Vereins für Kinder- und Jugendgenesungsfürsorge und der Rudolf-Ballin-Stiftung Hamburg – 1945-1980“. Grundlage dafür sind Archiv- und Literaturstudien, sowie 22 Interviews mit verschickten Kindern und drei mit Erzieherinnen, die in den Heimen tätig waren. Dabei geht es um die rund 120.000 Kinder in den 14 Heimen der Ballin-Stiftung – und somit nicht um alle Kinder, die von Hamburg aus verschickt worden sind.
Was sowohl die beiden verantwortlichen Professor:innen der Hochschule, Sarah Meyer und Johannes Richter, als auch Jens Petri von der Ballin-Stiftung betonten, war die enge Zusammenarbeit mit dem Beirat, in dem auch zwei ehemalige Verschickungskinder vertreten sind – die, auch das wurde betont, den Vorsitz des Beirats übernahmen. Das ist vermutlich kein Zufall bei einem Thema, bei dem die Betroffenen immer wieder das Gefühl hatten, kein Gehör zu finden: vor Ort in den Heimen, weil Briefe nach Hause zensiert wurden. Zurück bei den Eltern, weil ihre Erfahrungen bagatellisiert wurden und schließlich Jahre später in einer Öffentlichkeit, die das, was die Verschickungskinder als körperliche oder psychische Gewalt erfuhren, als zeittypische Pädagogik relativierte.
Eben diese Argumentation griffen mehrere der Anwesenden auf. Laut Johannes Richter von der Evangelischen Hochschule war die Erziehungspraxis in den Heimen ab den 70er Jahren „deutlich veraltet“. Er beschrieb das Klima grundsätzlich als eines „der Kälte und der Angst“, viele Kinder – „keine Einzelfälle“ hätten dort Zwang und gezielte Beschämungen erlebt. Laut Jörg Petri von der Ballin-Stiftung mussten Kinder nur in Unterhose auf dem Flur stehen, sie durften nicht selbst bestimmen, wann sie zur Toilette gingen – und wurden bei Bettnässen streng bestraft. Es gab „Unschönes, Schlimmes und gar Schreckliches“, sagte einer der Teilnehmer und das stand zum Teil unvermittelt nebeneinander, so dass die Gewichtung manchmal verloren ging, etwa der Zwang, „Tante“ zu sagen neben dem zwangsweise Einlöffeln von erbrochenem Essen.
Die Autorin Anja Röhl, die Mit-Initiatorin der Bewegung der Verschickungskinder ist, verwies gegenüber der taz auf die problematische Rolle der Kinderärzt:innen. In dem Buch „Kinderheime, Kinderheilstätten“ des Kinderarztes Sepp Folberth, das, so Röhl, in den Heimen als Grundsatzwerk fungierte, seien etwa Besuche der Eltern auch bei akuten Erkrankungen der Kinder ausgeschlossen worden, eine Verabschiedung von den Eltern sei zu vermeiden.
Was aus den Erfahrungen der Heimkinder folgt? „Wir wollen in 30 Jahren nicht die nächste Studie beauftragen“, sagte Jörg Petri von der Ballin-Stiftung und warnte vor den Folgen, die ein gesellschaftlicher Rechtsruck auf für pädagogische Überzeugungen habe könne. „Beziehung und Bindung“, sagte Petri, stünden am Anfang von allem, „und Beziehung vor Erziehung. Das dieser Konsens brüchig wird, wundert mich“.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen