: Vorläufig unbestimmt
Berlins SPD startet ihren parteiinternen „Zukunftsprozess“. Die neue Doppelspitze sagt, sie wolle erst mal hören, was die Mitglieder sich wünschen. Im Kern geht es auch um eine Befriedung der zerstrittenen Partei
Von Rainer Rutz
Es ist ruhiger geworden um die Berliner SPD. Noch in den ersten Monaten des Jahres machte der Landesverband vor allem als Krawallschachtel von sich reden. Im Kampf um den Parteivorsitz lieferten sich die unterschiedlichen Lager erbitterte Grabenkämpfe. Schließlich setzten sich Martin Hikel und Nicola Böcker-Giannini vom rechten Parteiflügel durch – wenn auch nicht mit berauschenden Zustimmungswerten.
Die SPD wolle nun „nicht mehr über Personen, sondern über Inhalte sprechen“, sagte Hikel am Freitagabend im Willy-Brandt-Haus in Kreuzberg bei der Auftaktveranstaltung zum parteiinternen „Zukunftsprozess Berlin 2035“. Fast auf den Tag genau vier Monate nach ihrer Wahl zur neuen Doppelspitze wollen Hikel und Böcker-Giannini damit „ein neues inhaltliches Fundament für die SPD Berlin schaffen mit einem fachlichen Fokus auf Themen von hoher Relevanz für die Berlinerinnen und Berliner“.
Unklar blieb beim Auftakt in der SPD-Bundeszentrale, was denn genau von hoher Relevanz ist. Die Ex-Sportstaatssekretärin und der Bürgermeister von Neukölln wollten über Floskelwolken auch nicht hinausgehen. Berlin im Jahr 2035 soll „eine intelligente Stadt“ sein, „eine Stadt, die Schubladen verlässt und kreativ nach vorn geht“, sagte Böcker-Giannini. Berlin müsse eine „Stadt der Chancen“ sein und „eine optimistische Stadt“, sagte Hikel.
Die vorläufige Unbestimmtheit bei maximaler Anschlussfähigkeit gehört gleichwohl zum Konzept. Es gehe ihnen darum, zunächst „alle möglichen Perspektiven zu hören“, erklärte das Duo. Man wolle „deutlich mehr als jetzt“ den Dialog mit den Mitgliedern, aber auch mit der Stadtgesellschaft suchen.
Zu diesem Zweck sollen bis zum Sommer 2025 sechs „Zukunftswerkstätten“ mit jeweils bis zu 100 Teilnehmer:innen durchgeführt werden. Die Mottos der einzelnen „Werkstätten“ folgen dabei der nach allen Seiten offenen Optimismuslinie: „Zusammenhalten!“, „Zuhause!“, „Sicherheit!“, „Aufsteigen!“, „Verantwortung!“, „Anpacken!“ Ausrufezeichen im Original.
Die Ergebnisse sollen im Anschluss „in Kompromiss gebracht“ und in einem „Zukunftskonzept Berlin 2035“ zusammengefasst werden, das dann in das Programm für die Abgeordnetenhauswahl 2026 einfließen soll. Im Vordergrund stehe das Miteinander, sagte Parteichef Hikel. „Das Gegeneinander, das Sichanbrüllen beim Austausch von Positionen, das bringt uns nicht weiter. Weiter bringen uns die Kompromisse.“
Der „Zukunftsprozess“ ist offenkundig eine Art Gegenmodell zum Top-down-Durchregierstil der Vorgänger:innen Franziska Giffey und Raed Saleh. Eine im März veröffentlichte externe Analyse der letzten Wahlschlappen war in dieser Hinsicht zu einem vernichtenden Urteil gekommen: Es habe in der Berliner SPD unter Giffey und Saleh keine Räume für Debatten gegeben, die Partei sei tief zerrissen, die Außenwirkung katastrophal.
Nicola Böcker-Giannini und Martin Hikel halten sich nun fleißig an die Empfehlungen des Papiers. Die Autor:innen hatten der Partei geraten, „neue Formate“ zu entwickeln und sich dabei „die Debattencamps der Bundes-SPD zum Vorbild zu nehmen und gemeinsam mit der Mitgliedschaft langfristige Themensetzungen anzugehen“.
Das Ziel des im Rennen um den Parteivorsitz nicht zuletzt vom linken Parteiflügel grundsätzlich abgelehnten Duos ist klar: Der Landesverband soll wieder zusammengeführt werden. Nur folgerichtig wird die Parteilinke in den „Zukunftsprozess“ offensiv eingebunden. So moderierte die ehemalige Juso-Vorsitzende Sinem Taşan-Funke Seite an Seite mit der noch vor einem halben Jahr von ihr als Vertreterin einer „CDU light“ angegangenen Nicola Böcker-Giannini durch die Auftaktveranstaltung.
Ob die Strategie „Befriedung durch Umarmung“ aufgeht, wird Ende November beim nächsten Landesparteitag der SPD zu bestaunen sein.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen