TV-Sendung „Die große Elchwanderung“: Ein ganzer Elchkosmos
Jedes Jahr zeigt das schwedische Fernsehen wochenlang live, wie Elche ins Landesinnere ziehen. Nun gibt es sogar eine geführte Exkursion an die Drehorte.
Dunkelblau sieht der mäandernde Ångermanälven heute aus, wie der Augusthimmel über ihm. Dazwischen ist alles grün, scheinbar endlos umrahmt der Wald das Wasser. Dies wird mein Lieblingsteil des Tages, ich weiß es schon. Alles daran ist besonders. Noch nie habe ich auf einem Floß gesessen, nie die Welt von der Mitte eines Flusses aus betrachtet. Von mir aus könnten wir noch eine Weile untätig bleiben.
„Da ist Södra Udden“, ruft Leif, der vor mir sitzt und lieber fotografiert als zu paddeln. Er zeigt auf die Landzunge zu unserer Linken wie ein Guide, dabei war er noch nie hier. Er kennt das alles nur sehr gut aus dem Fernsehen.
„Die große Elchwanderung“ begleitet im Frühling wochenlang den Alltag sehr vieler Menschen in Schweden. Morgens, mittags, abends, nachts, 24 Stunden Livestream, aufgenommen von rund 30 vorwiegend ferngesteuerten Kameras. Seit 2019 geht das so. Die Namen der Uferstellen, Lichtungen und Buchten fließen dann wie selbstverständlich in Gespräche ein. Entrén, Södra Udden, Näset. Geräusche von knackenden Zweigen und auf dem Wasser landenden Vögeln werden zu kleinen Ereignissen, während alle gleichzeitig auf die Hauptpersonen warten: Elche, die wie seit Jahrtausenden hier den Fluss überqueren, auf ihrem Weg von der Küste zu den Sommerweiden der Berge.
Der Guide ist ein waldhistorisch bewanderter Entertainer
Wir sind wie Serienfans auf Drehortbesichtigung. Diesen Ort gibt es wirklich! Hier schwimmen sie! Das im Sommer zu erleben, wenn die Elche nicht da sind, ist gewollt. Im Frühling soll man bitte von zu Hause auf dem Sofa zugucken, nicht die Tiere stören.
Begrüßt hat Patrik Fängström unsere 20-köpfige Gruppe am Morgen mit Kaffee vom Lagerfeuer, im Wald nahe der Kleinstadt Junsele, ungefähr 560 Kilometer nördlich von Stockholm. Seine vier frisch gezimmerten Regenunterstände werden bestaunt, aber an diesem Tag nicht benötigt. Patrik – in Schweden reicht der Vorname – erzählt kurz, was uns hier erwartet, dann geht er die Flöße vorbereiten. Seine Gäste schickt er erst mal mit Arne in den Wald.
Arne ist im Alltag Ingenieur in der Stadt, aber im Geiste ist er Vollzeitwaldmensch, und heute unser Guide. Sehr unterhaltsam erzählt er, wie er einmal fast von einem Bären gefressen wurde, und anschließend, was es mit diesen großen Vertiefungen zwischen den Bäumen auf sich habe: steinzeitliche Elchfallen. Die Forschung sei sicher, damit wurden die Tiere einst gefangen. Nur wie genau man sie dazu gebracht hat, hineinzustolpern, darüber werde noch gerätselt. Seine Theorien dazu spielt Arne pantomimisch vor, ein waldhistorisch bewanderter Entertainer.
Als er thematisch in der Gegenwart ankommt, erzählt er von den großen Waldwirtschaftskonzernen, die gut auf Elche verzichten könnten. Wir besichtigen eine Fläche voller abgefressener Jungpflanzen. Monokulturen nach Kahlschlag sind anfällig, könnte man anmerken, aber Arne ist kein Umweltbewegter. Es werde kein Zurück zur Wildnis von einst geben. Ein Gerangel bleibe es, zwischen den unterschiedlichen Bedürfnissen von Natur und Mensch.
Wie sie anfangs über die Idee vom Elch-Livestream gewitzelt haben, auch davon erzählt Arne. „Mach das gerne“, habe er zu Stefan Edlund, dem Erfinder des Formats, gesagt. „Das wird zwar keinen interessieren, aber wenigstens kann ich dann mein Zuhause im Fernsehen sehen.“ Über seine Fehleinschätzung lacht er heute. 2024 lief die Elchwanderung auf RTL+ sogar erstmals in Deutschland.
Dass Menschen Elche essen, gehört auch dazu
Wir sitzen mitten in dieser Landschaft, die längst nicht mehr nur auf Einheimische vertraut wirkt. Eine Stunde verbringen wir auf dem Fluss, eine herrliche und gerade passend aufregende Stunde, dann gibt die Strömung uns wie versprochen an dem Ufer ab, wo ein „Wildnis-Lunch“ angekündigt ist.
Dieser Text stammt aus der wochentaz. Unserer Wochenzeitung von links! In der wochentaz geht es jede Woche um die Welt, wie sie ist – und wie sie sein könnte. Eine linke Wochenzeitung mit Stimme, Haltung und dem besonderen taz-Blick auf die Welt. Jeden Samstag neu am Kiosk und natürlich im Abo.
Hier lächelt uns Emilia schon entgegen, sie steht hinter einer riesigen Pfanne. Emilia ist Köchin, Jägerin, Bäuerin und Bäckerin in einem. Heute serviert sie Elch. Die Tiere bewundern und sie dann essen: Das scheint hier niemandem einer Erwähnung wert. Der Ausflug heißt „Die Geschichte der Elche“. Dass Menschen sich von ihnen ernähren, gehört dazu.
Emilia serviert das gebratene Fleisch in selbst gebackenem Pitabrot, mit eingelegten Zwiebeln und einem leichten Dressing. Begeisterung allenthalben, so feines Essen mitten im Wald! Für die beiden Vegetarierinnen gibt es Halloumi, auch eine vegane Variante wäre im Angebot gewesen.
Leif postet die ersten Fotos in die Facebook-Fangruppe der Sendung. Dort hatte Patrik auch seine Marktforschung betrieben und zur Premierenfahrt eingeladen. Der 67-jährige Leif mag vor allem die „beruhigenden Naturgeräusche“ der Sendung, und alle am Tisch können nur zustimmen. Er schwärmt aber auch von der App, über die Fans mit den Menschen hinter den Kulissen kommunizieren können. Die Community ist für viele ein wichtiger Teil des Vergnügens.
Nicht nur ein Drehort, ein ganzer Elchkosmos
Für den Schlussakkord dieses Tages wechseln wir die Location, der Bus fährt uns zum Nämforsen und seiner steinzeitlichen Felskunst. Arne übergibt an Peter, den Experten für Felsritzungen. Während der Wasserfall neben uns lautstark Strom produziert, scharen wir uns am Ufer um die Spuren, die Menschen vor Tausenden von Jahren hier hinterlassen haben. Damit auch ungeübte Augen sie erkennen, sind sie teilweise rot ausgemalt. Peter erzählt so laut er kann. Er stelle sich gerne vor, wie hier eine Frau saß und in die Felsen einritzte, was in ihrem Leben wichtig war. Natürlich waren das, neben Schiffen und Fischen: Elche.
Der Tag endet, wie er begonnen hat, mit einem gemeinsamen Kaffeetrinken. Serviert wird im Hällristningsmuseum, mit Blick über den Fluss. Ich sitze bei Roger und Susanne, den Gästen mit der kürzesten Anreise. Sie kommen auch aus Junsele, produzieren dort Essigspezialitäten aus Waldbeeren. Es sei toll, wenn jemand im Ort etwas Neues ausprobiert, finden sie. Sie wünschen Patrik, dass seine Idee Früchte trägt. Im nächsten Jahr will er die Tagestour regulär anbieten.
An der örtlichen Tankstelle hängt ein handgeschriebener Zettel, ich sehe ihn beim Tanken auf dem Heimweg. „Wir haben geräucherte Elchherzen im Kühlschrank. Oh, wie herrlich!“ Ich habe nicht nur einen Drehort besichtigt, sondern einen ganzen Elchkosmos durchstreift.
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