„Ich hasse sie alle, rechts wie links“

Der Schriftsteller Joshua Cohen über die US-amerikanische Arroganz, ausländische Konflikte in nationale Begriffe zu übersetzen

Ein jüdischer Mann in Manhattan. Joshua Cohen glaubt, der Antisemitismus kehre zyklisch wieder Foto: imago

Interview Sebastian Moll

taz: Joshua Cohen, Sie unterrichten an der Columbia University in New York Literatur. Wie haben Sie die Proteste dort erlebt?

Joshua Cohen: So was macht mir nichts aus. Es ist doch gut, dass die jungen Leute etwas tun. Die Leute, die deshalb ausgeflippt sind, glauben noch an Institutionen. Sie haben die Vorstellung, dass Institutionen – egal ob Stadtverwaltung, Bundesregierung oder eben die Ivy-League-Universitäten – Träger von Werten und Ethik, von Moral und Tradition sind. Aber sie sind schon seit Jahrzehnten ausgehöhlt.

taz: Sie waren auch nicht enttäuscht über die Räumung des Campus?

Cohen: Nein. Ich habe diese Institu­tio­nen nie als Orte gesehen, die in erster Linie die freie Rede schützen. Ich sehe sie eher als Gelddruckereien und Geldwäschereien. Ich brauchte auch keine Studenten einer Eliteuniversität, um mich davon zu überzeugen, dass die Leute oft nicht wissen, was sie sagen.

taz: Sie meinen die Reaktion der amerikanischen Linken auf Gaza?

Cohen: Wenn man Studierende sagen hört: „Bombardiert Tel Aviv“, dann lautet meine erste Frage: „Bist du sicher, dass du das willst? Weißt du, was das bedeutet?“ Wenn sie mit Messern und Gewehren auftauchen oder sich in die Luft sprengen würden, die Columbia-Studenten, dann wäre das eine andere Geschichte. Aber ich fühle mich nicht durch Sprache bedroht. Ich sehe nicht, dass die Fundamente des liberalen Diskurses bröckeln. Hassrede ist nun einmal ein Teil davon, das ist Teil der demokratischen Vereinbarung.

taz: Die Tatsache, dass sich ein offener Antisemitismus plötzlich legitimiert fühlt, hat Sie nicht erschüttert?

Cohen: Ich unterlag nie der Illusion, dass der Antisemitismus in Amerika verschwunden ist. Ich glaube nicht, dass der Antisemitismus zugenommen hat, aber die Akzeptanz hat in bestimmten Kontexten zugenommen. Das hat mich nicht überrascht. Ich war nie der Meinung, dass die Menschen Juden lieben.

taz: Franklin Foer schrieb kürzlich, das goldene Zeitalter der amerikanischen Juden gehe zu Ende.

Cohen: Ich fand das lustig, weil man vor 40 Jahren so einen Artikel nicht hätte schreiben können. Er wäre nie auf der Titelseite einer großen Zeitschrift erschienen. Allein das sowie die Tatsache, dass diese Angst auf so klagende Weise geäußert wurde, ist ein Zeichen dafür, dass das goldene Zeitalter immer noch golden ist. Der Antisemitismus in Amerika ist ein zyklisches Phänomen. Die amerikanische Linke hat Gaza zu ihrem zentralen moralischen Anliegen gemacht und ist zu einer monothematischen Bewegung geworden.

taz: Wie wirkt sich das auf Ihr Verhältnis zur Linken aus?

Cohen: Ich denke, das ist Teil der amerikanischen Arroganz. Amerika hat die Tendenz, alle ausländischen Konflikte in nationale Begriffe zu übersetzen. So werden die Israelis zu Weißen, ungeachtet der wahren demografischen Gegebenheiten in Israel. Die Palästinenser werden zu schwarzen oder braunen Menschen. So wird Israel als Teil der Geschichte des Imperialismus und Kolonialismus verstanden, wie wir ihn kennen, und bei dieser Übersetzung geht jeder Kontext verloren. Es erfordert ein gewisses Maß an Engagement und Raffinesse, Antizionismus von Antisemitismus zu unterscheiden oder legitime Kritik an der israelischen Regierung von Antisemitismus oder gar von der Kritik am zionistischen Projekt. Solche Unterscheidungen erfordern eine gewisse intellektuelle Anstrengung. Deutschland ist aufgrund seiner Geschichte sensibel dafür. Aber wenn man an die jahrzehntelange Investition in Bildung denkt, die damit verbunden wäre – zu erwarten, dass das auch auf amerikanischem Boden passiert, ist wahrscheinlich unvernünftig. Es ist ein weiterer Versuch, die Juden zu einem Vehikel machen, um politische Missstände anzuklagen.

Wie würden Sie Ihre Haltung in Bezug auf die amerikanische Innenpolitik beschreiben? Offensichtlich passen Sie nicht in die gängigen Kategorien von links und rechts.

Cohen: Ehrlich gesagt, hasse ich sie alle. Ich nehme es ihnen übel, dass sie mich auf diesen Blödsinn reduziert haben. Ich würde meine Haltung als echte Ressentiment-Politik bezeichnen, als Ressentiment gegen die Tatsache, dass ich mich mit diesen Fragen überhaupt auseinandersetzen muss. Ich vertrete die Auffassung, dass die derzeitige israelische Regierung eine kriminelle Regierung ist. Aber die Gestaltung des Projekts Israel ist meiner Meinung nach gleichbedeutend mit dem Überleben des jüdischen Volkes. Ich befinde mich also im Spannungsfeld dieser Widersprüche. Ich sehe keinen großen Unterschied zwischen der Israelpolitik der Demokratischen und der Republikanischen Partei. Der Kampf, den die amerikanische Linke führt, ist ein Kampf um Rassengerechtigkeit, der mit dem demografischen Wandel in den Vereinigten Staaten zu tun hat. Die Idee, dass es eine direkte Beziehung zwischen den amerikanischen Ethnien und dem israe­lisch-palästinensischen Konflikt gibt, ist eine Metapher.

taz: Sind sie frustriert, dass es keinen Platz für Positionen wie ihre gibt?

Cohen: Ich mag den Ausdruck „stille Mehrheit“ nicht, weil er von Ronald Rea­gan besetzt wurde. Aber ich gehöre der Mehrheit an. Ich glaube, die Mehrheit der Amerikaner möchte, dass das Massentöten aufhört und dass es eine Zweistaatenlösung gibt. Es gibt eine sehr kleine Gruppe, die an eine Einstaatenlösung oder die Auslöschung des zionistischen Projekts glaubt. Aber all das ist so weit von der israelischen und der palästinensischen Realität entfernt, dass man nur von Fantasien sprechen kann. Wenn man heute in Israel den Ausdruck Zweistaatenlösung benutzt, kann man wählen, ob man entweder ausgelacht oder ins Gesicht geschlagen wird. In den palästinensischen Gemeinden würde man genau die gleiche Reaktion bekommen. Aber irgendwann wird man die Parteien an einen Tisch bringen müssen. In der Zeit, in der eventuell Harris regieren wird, wird es in Israel einen Wechsel in der Führung geben. Es wird dort eine Regierung geben, mit der man arbeiten kann, und die Herausforderung für eine demokratische Präsidentin wird sein, uns nicht von Israel zu entfremden. Wenn sie der amerikanischen linken Basis erlaubt, ein Engagement mit einer kommenden israelischen Regierung zu versauen, dann gibt es keine Hoffnung mehr.

taz: Die amerikanische Linke hat wegen der Israelpolitik der Regierung große Vorbehalte gegenüber Kamala Harris.

Cohen: Kamala führt einen reinen Persönlichkeitswahlkampf. Das Einzige an ihr, was meine Vorstellungskraft fesselt, ist der Wunsch, eine weibliche Präsidentin zu haben. Ich habe Angst, das zu sagen, weil es eine Beleidigung für ihre Intelligenz und Individualität ist. Es ist erbärmlich, dass ich es so ausdrücke, aber die Symbolik ist wichtig. Leider wird das mächtigste Land der Welt wieder über Symbolik abstimmen.

taz: Ist Politik nicht überall so?

Foto: Fredrik Sandberg/imago

Joshua Cohen wurde 1980 in New Jersey geboren. Weltweit große Aufmerksamkeit bekam sein Roman „Die Netanjahus“, der im amerikanischen Original 2021 veröffentlicht wurde. Im Herbst wird bei Schöffling seine Essaysammlung „Aufzeichnungen aus der Höhle“ er­scheinen.

Cohen: Ja, aber bis vor nicht allzu langer Zeit konnte man noch in der republikanischen und demokratischen Binarität denken. Man konnte politische Unterscheidungen treffen. Mich interessiert, wie der Trumpismus nach der Wahl aussehen wird: Wohin wendet sich dieser Impuls, die Dinge zu demontieren, zu zerstören, die Vereinigten Staaten zu konföderalisieren? Da scheint mir ein Machtvakuum zu entstehen, wenn Trumps kalte Persönlichkeit weg ist.

taz: Die Demokratische Partei sagt, es gehe um Freiheit oder Faschismus.

Cohen: Das ist eine gute Strategie, um die Menschen zur Wahlurne zu bewegen, als Diagnose taugt das nicht. Die Behauptung, die Republik könne zerstört werden, ist hyperventilierend.

taz: Sie erwarten nicht, dass am 6. Januar 2025 Braunhemden auf der Pennsylvania Avenue marschieren.

Cohen: Nein, ich sehe das nicht. Ich denke, dass dies ein Kampf darum ist, ob das Wall-Street- oder das Silicon-Valley-Amerika regiert. Als Kamala ins Rennen ging, hatte die Wall Street ihre Kandidatin, während das Silicon Valley – Elon Musk, Bill Hackman, Peter Thiel und diese Leute – sich nun für Trump einsetzt. Mir fällt es schwer zu glauben, dass sie das nicht bereuen werden. Aber die Venture Capitalists im Silicon Valley gehen immer große Wetten ein, und wenn sie scheitern, verdoppeln sie den Einsatz. Es geht also darum, ob die Wall Street das Silicon Valley kontrolliert oder umgekehrt. Die Antwort ist, dass die Wall Street sowohl das Silicon Valley als auch die Demokraten kontrolliert.