Neuer Roman von Clemens Meyer: Wilder Fluss des Erzählens

Er reitet mit Winnetou durch die Geschichte Jugoslawiens und endet im wiedervereinigten Deutschland: Meyers neuer Roman „Die Projektoren“.

Clemens Meyer fand im unwirtlichen kroatischen Gebirgsmassivs Velebit Inspiration für seinen neuen Roman Foto: Foto: Hendrik Schmidt/dpa

Schicksalswahlen, Wende, Demokratietest – die Wahlen in Ostdeutschland sind das Thema im politischen Herbst 2024. Wenige Tage vor der Wahl ist der lang erwartete neue Roman von Clemens Meyer erschienen, einem der bekanntesten zeitgenössischen Au­toren Sachsens. Doch anders als sonst spielt die Heimat des Leipzigers ausgerechnet dieses Mal nur eine Randrolle.

Man könnte das als literarischen Stinkefinger werten. Meyer bietet keine raue Halbweltgeschichte aus Ostdeutschland an, wie er sie schon öfter geschrieben hat und die sich gerade jetzt bestens für die Rubrik „Wie der Osten wurde, was er ist, und wie er tickt“ hätte vermarkten lassen können.

Er legt ein dickes Ding vor: ein über 1.000 Seiten langes Epos, in dem es zwar auch um Halb-, Unter- und Zwischenwelten geht, in denen es nicht minder gewalttätig und tragisch zugeht, das aber vorwiegend in einem europäischen Land spielt, das es – wie die DDR, in der er geboren wurde – nicht mehr gibt: Jugoslawien.

Clemens Meyer: „Die Projektoren“. S. Fischer, Frankfurt a. M. 2024, 1.056 Seiten, 36 Euro

Möglicherweise stimmt aber schon diese Aussage nicht. Was wirklich im Zentrum von „Die Projektoren“ liegt, lässt sich kaum sagen. Zum einen, weil eine Fülle an Schauplätzen, Figuren und Geschichten erzählt werden, zum anderen, weil ein Motiv des Erzählers in der ständigen Verunsicherung darüber besteht, was real und was Einbildung ist, wo Anfang und Ende, wo Sinn und Unsinn.

Winnetou, ein bekannter Deutscher

Einer der Protagonisten in diesem Buch ist Winnetou. Der neben Hitler und Nena wohl weltweit bekannteste Deutsche des 20. Jahrhunderts ist eine literarische Erfindung des weltweit mit am meisten verkauften deutschen Autors Karl May. Der ebenfalls aus Sachsen stammende Schriftsteller hatte immer behauptet, der von ihm erfundene weiße Freund von Winnetou, Old Shatterhand, sei keine fiktive Figur, sondern er selbst.

Die Filmfigur Winnetou ist allerdings ganz ohne solch Hochstapelei zu einer realen Figur geworden. Kaum ein Kind, das mit diesen Filmen groß wurde, das nicht der Meinung war, Winnetou gäbe es, und kaum ein erwachsener Deutscher, dessen Bild von den Indianern nicht vom Bild dieser deutschen B-Movie-Filme geprägt ist.

Verfilmt wurden dessen Romane über den Häuptling der Apachen ausgerechnet in Jugoslawien, vor allem im südlichen Teil des kargen und unwirtlichen kroatischen Gebirgsmassivs Velebit, dessen Name so viel bedeutet wie „Großes Wesen“, also als hätte sich den Namen Karl May ausgedacht, um ihn irgendwie indianisch klingen zu lassen. In diesem Großen Wesen spielt kein geringer Teil des Romans von Clemens Meyer.

Und zwar deswegen, weil Meyer eine historische Absurdität nicht in Ruhe ließ. Bei seinen Reisen in dieses Gebirge erfuhr er, dass rund um die bizarre Felsformation Tulove Grede, die jeder erkennt, der die Winnetou-Filme gesehen hat, sich bis heute ein vermintes Feld befindet. Und zwar nicht als Metapher.

Cowboys und Serben

Genau hier, wo in den 1960er Jahren kroatische, serbische und bosnische Statisten mit rotbemalten Gesichtern und Federn im Haar mit deutschen, französischen und amerikanischen Schauspielern Cowboy und Indianer spielten und sich mit Kunstblut und Plastikwaffen bewarfen, massakrierten sich 30 Jahre später Serben und Kroaten gegenseitig, und zwar in echt.

Heute findet man an einer der Felswände Schaukästen mit Fotos von Pierre Briece und Lex Barker und nebendran kleine Grabplatten, die an gefallene kroatische Kämpfer der 1990er Jahre erinnern.

Ist das nun ein Beispiel, wie aus einer Fiktion (Cowboys ­gegen Indianer) Realität (Serben gegen Kroaten) wurde und wie aus einer Realität (Serben mit Kroaten) Fiktion (Serben ­gegen Kroaten) wurde? Jedenfalls ist der Tulove Grede im Großen Wesen für Clemens Meyer der große Pate für seinen Roman.

Verbannt ins Große Wesen

Hier in diesem Gebiet macht uns Meyer mit einem Mann bekannt, der von allen nur „Cowboy“ genannt wird, weil er ein kariertes Tuch um den Hals trägt. Um seinen richtigen Namen zu erfahren, muss man das Buch allerdings bis fast zu Ende lesen. Cowboy wächst im serbischen Belgrad auf, wo er 1941 seine Eltern beim Luftangriff der Deutschen verliert, er kommt als Kind zu den jugoslawischen Partisanen, wird dort Botengänger zwischen den Fronten.

Nach Ende des Krieges und Titos Abkehr von Stalin landet Cowboy auf der berüchtigten Strafgefangeneninsel Goli Otok. Danach wird er ins Große Wesen verbannt, wo er in einer klapprigen Hütte mir einem stummen Schäfer lebt, den er „Pflaume“ tauft, natürlich wegen des Pflaumenschnapses, den jeder kroatische Hinterlandbewohner selbst brennt.

Als dann in den 1960er Jahren die deutsche Filmcrew auftaucht, um unter seiner Hütte „Winnetou“ zu drehen, wird Cowboy zum Indianer-Statisten und zum Dolmetscher für Lex Barker. Wer ist hier Statist, wer echt? Wer ist hier Cowboy, wer Tarzan? Cowboy verliebt sich jedenfalls in die hübsche Negosava, deren Name zwar auch so klingt, als hätte ihn sich Karl May für eine Indianerin ausgedacht, die aber vojvodinische Serbin ist. Ob sie die blonde Frau ist, die – wie die Opfer des Massakers in Novi Sad 1942 – durch die Donau treibt?

In einem abenteuerlichen Erzählstrom nimmt uns Clemens Meyer mit durch die Labyrinthe der verworrenen jugoslawischen Geschichte und Kriege, in der oft auf brutale Weise Deutsche involviert sind. Sprache und Erzählstil wechseln dabei wie ein wilder Fluss zwischen reißend und plätschernd, zwischen Wasserfall und gefällearm, machen spektakuläre Biegungen, fließen aber auch über lange Strecken gradlinig, ruhig, gezähmt und überschaubar. Von solchen wilden Flüssen und Wasserfällen gibt es auf dem Gebiet des ehemaligen Jugoslawien zahlreiche, und durch sie sind schon hunderte von Leichen getrieben.

Verweise, Zitate, Hintergründe

Bliebe man in diesem Roman an jeder Ecke stehen, wo es was zu sehen gibt, ginge man durch jede aufgehende Tür hindurch, um an der Stelle aus dem Roman aus- und direkt ins Internet einzutreten, zwecks Erkundigungen zu Anspielungen, Verweise, Zitaten, historischen Hintergründen und Figuren, man käme an kein Ende. Ist das jetzt eine wahre Geschichte oder nur neu kompiliert? Hat Karl May wirklich Hitler getroffen oder doch nur Lex Barker den Marschall Tito?

Aber – so viel zur Beruhigung – man kann es auch sein lassen und sich einfach weiter an all den offenen Türen vorbeitreiben lassen. Man muss dafür allerdings ziemlich resilient sein. Über eine Strecke von über 1.000 Seiten fragt man sich nicht nur einmal, ob man eigentlich noch weiß, was man hier tut, ob es der Autor noch weiß oder ob sich hier sowieso nichts mehr entwirren lässt, weil alles heillos miteinander verfilzt ist.

Dem Cowboy aber können wir ganz gut folgen und treffen ihn hunderte Seiten später in den 1970er Jahren im Ruhrgebiet wieder, wo er als Groschen­romanschreiber mit Westerngeschichten sein Geld verdient. Es ist die Zeit der sogenannten Gastarbeiter, die damals auch aus Jugoslawien nach Deutschland geholt wurden.

30 Jahre später verabreden sich im Ruhrgebiet drei Kumpels, einer aus einer DDR-Flüchtlingsfamilie, die anderen beiden Gastarbeiterkinder, und bilden eine Art westdeutsches Pionierprojekt zum NSU: Sie gehen 1991 nach Kroatien, um dort an der Seite von faschistischen Milizen in den Krieg zu ziehen, als Training für die ganz große Nummer im wiedervereinigten Deutschland, der sie sich dank Pogromen und Anschlägen wie in Hoyerswerda ganz nahe wähnen.

Die Wahrheitssuche der „dottores“

Immer wieder schalten sich außerdem sogenannte „dottores“ in die Erzählung, die mal in einer Psychiatrie in Leipzig, mal auf einem Kongress im Jemen mit und über ihre Patienten sprechen, darunter ein ostdeutscher Journalist, der in den 90er Jahren als Berichterstatter an der kroatischen Front war, die von Kriegserfahrungen und anderen traumatischen Erfahrungen berichten.

Die „dottores“ sind diejenigen, die in jeder Erzählung Sinn, Rationalität und Wahrheit suchen. Doch irgendwann beginnt die Erinnerung der Patienten zu stolpern, die Schilderungen werden lückenhafter, es kommt zu Filmrissen und Bilder aus anderen Filmen, die sich überlagern, bis alles irgendwann zu einem beklemmenden Albtraum ausartet, aus dem es wie eine Erlösung ist, wenn klar wird: Alles nur geträumt. Kapitel Ende. Oder doch nicht? Nächstes Kapitel.

„Die Projektoren“ kann man als Roman lesen, der versucht, den Zufall wegzureden, dem ganzen Irrsinn von Faschismus, Mord, Grausamkeit, von Neonazis und Blutsprudel irgendeinen Sinn, irgendeinen vernünftigen Grund, irgendeine Rationalität abzuringen. Verwirrungen, Verwechslungen, Einbildung oder Einprägung? Jede Gewissheit, die es eine Zeitlang gibt, jede stringente Erzählung wird irgendwann eingeholt von der Verunsicherung, von der immer fragmentierteren Erinnerung.

Bei einem Fluss sind Anfang und Ende relativ klar. In Meyers Roman lässt sich Quelle und Mündung weder genau verorten noch datieren, außer auf Seite 1 und Seite 1042. Der Charakter eines Flusses aber wird nicht durch seinen Anfang und sein Ende bestimmt, sondern durch das, was auf seinem Weg passiert. Wer behauptet, zu wissen, wo alles anfing und wo das alles hinführt, landet im Nationalismus, im Schützengraben, im Untergrund, im Knast oder vor einer Flinte und meistens sowieso daneben.

Folgt man Clemens Meyer auf seiner Wildwasserbahn, wird man eines ganz gewiss nicht behaupten können: zu wissen, wo das alles angefangen hat und wo das hinführen soll. Aber weiterfahren will man trotzdem unbedingt.

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