Der lange Weg nach rechts

Eine Datenanalyse der taz zeigt: Die Ergebnisse der Wahlen in Sachsen und Thüringen sind der vorläufige Höhepunkt eines langfristigen Rechtsrucks. In Ostdeutschland ist er besonders drastisch

Von Lalon Sander
und Andreas Speit

In Karlsdorf in Thüringen holte die rechtsextreme AfD bei der Landtagswahl am 1. September 72 Prozent. Ein Rekordergebnis. In ganz Thüringen wurden die Rechts­ex­tre­mis­t*in­nen stärkste Kraft, in Sachsen ganz knapp hinter der CDU zweitstärkste. Für viele Menschen in Deutschland war das schockierend. Erstmals seit Ende des Zweiten Weltkrieges hat eine rechtsextreme Partei eine Landtagswahl gewonnen.

Das Ergebnis ist der vorläufige Höhepunkt eines bundesweiten Rechtsrucks, der in Ostdeutschland besonders drastisch ist. Schon bei der vergangenen Bundestagswahl zeichnete sich ab, dass in den ostdeutschen Bundesländern die AfD vielerorts eine Mehrheit der Wäh­le­r*in­nen hinter sich hat.

Die Daten

In Deutschland wird bei Bundestagswahlen in 299 Wahlkreisen gewählt. Diese werden wiederum in Wahlbezirke unterteilt. Für diese Datenanalyse hat die taz die Wahlergebnisse für mehr als 10.000 Gemeinden in Deutschland für die Bundestagswahlen der vergangenen dreißig Jahre errechnet.

Das Vorgehen

Die Bundeswahlleiterin stellt auf ihrer Website die Ergebnisse der Wahlbezirke von allen Bundestagswahlen zur Verfügung. Da bekannt ist, in welcher Gemeinde sich die Wahlbezirke befinden, können Ergebnissummen für die Gemeinden in Deutschland erstellt werden. Dafür gibt es zwei Einschränkungen. Erstens sind manche Gemeinden so klein, dass sie mit einer benachbarten Gemeinde in einem Wahlbezirk zusammengefasst werden. In diesem Fall taucht das Ergebnis nicht bei der kleineren Gemeinde auf, sondern nur bei der größeren. Zweitens werden in manchen Regionen die Briefwahl-Stimmen für mehrere Wahlbezirke zusammen gesammelt, sodass eine Zuordnung der Briefwahlstimmen zu einer Gemeinde nicht mehr möglich ist. In diesen Fällen haben wir die Briefwahlstimmen dieser Gemeinden nicht gezählt. In der Regel wird damit das rechte Wahlergebnis leicht überschätzt, da die Wäh­le­r*in­nen dieser Parteien seltener per Briefwahl abstimmen.

Die grauen Flecken

Da sich die Gemeindegrenzen in Deutschland von Jahr zu Jahr immer wieder verändern, haben wir die Wahl­ergebnisse jeweils für die Gemeinden im Jahr 2021 umgerechnet. Die grauen Flecken in der Karte sind vor allem Gebiete, die unbewohnt sind. Zudem gibt es auch Gemeinden, in denen das Ergebnis nicht sauber umgerechnet werden konnte – beispielsweise weil eine frühere größere Gemeinde in mehrere kleineren aufgeteilt wurde. Insgesamt gab es im Jahr 2021 10.994 Gemeinden.

Die extrem rechten Parteien

Um das rechte Wahlergebnis zu errechnen, haben wir die Zweitstimmen in den Gemeinden für folgende Parteien zusammengezählt: AfD, NPD/Die Heimat, Republikaner, DVU, III. Weg, Die Basis, Die Rechte, Pro Deutschland, Bund freier Bürger/Offensive Deutschland, Bürgerbewegung pro Deutschland, 50Plus, Partei Rechtsstaatlicher Offensive („Schill-Partei“), „Ab jetzt…Demokratie durch Volksabstimmung“, Freie Wähler Deutschland (nicht zu verwechseln mit der Bundesvereinigung Freie Wähler, die beispielsweise in Bayern mitregiert) und Deutsche Mitte. Die Stimmanteile werden gezählt, auch wenn die Partei an der 5-Prozent-Hürde bei der Wahl scheiterte und nicht in den Bundestag einzog.

Um diese Entwicklung besser verstehen zu können, haben wir in den vergangenen Monaten die Wahlergebnisse der Bundestagswahlen seit 1994 analysiert und berechnet, wie sich in den Gemeinden Deutschlands der Zweitstimmen-Anteil rechter Parteien über die Jahre verändert hat. Das Ergebnis: In fast allen der mehr als 10.000 Gemeinden ist der Stimmanteil rechter Parteien gestiegen, teilweise um über 50 Prozentpunkte – beispielsweise in Karlsdorf, Thüringen, wo rechte Parteien im Jahr 1998 nur etwa 3 Prozent der Wäh­le­r*in­nen­stim­men einsammeln konnten. 2021 waren es dann bereits 54 Prozent. (Zur Definition rechter Parteien und der genauen Methode siehe Kasten.)

Die Daten legen für den Osten nahe, dass das rechtsradikale Wäh­le­r*in­nen­poten­zi­al dort erst erschlossen werden musste: mit den sogenannten Baseballschlägerjahren in den 1990er Jahren, dem Aufstieg der NPD in den 2000er Jahren und der Neuerfindung des Rechtsextremismus im neurechten Gewand in den 2010er Jahren. Im Westen wurden dagegen länger bestehende rechte Milieus reaktiviert: Die damaligen Hochburgen rechtsextremer Parteien im Westen sind heute oft Hochburgen für die AfD.

Schon vor der Wiedervereinigung gewannen extrem rechte Politiker im Westen immer wieder viele Wähler*innenstimmen. In den 1960er Jahren war die NPD bereits in sieben Landtagen präsent, die Republikaner zogen 1989 ins Berliner Abgeordnetenhaus und ins Europaparlament ein und saßen schließlich von 1992 bis 2001 im Landtag von Baden-Württemberg. Die DVU (Deutsche Volksunion) zog kurz nach der Wende sowohl in die Bremer Bür­ge­r*in­nen­schaft als auch in den Landtag von Schleswig-Holstein ein. In Hamburg konnte hingegen die extrem rechte Schill-Partei im Jahr 2000 gleich die Regierung mitbilden – dank einer CDU, die unbedingt die Macht der SPD brechen wollte.

In Hamburg zeigte sich damals, wohin eine mangelnde Abgrenzung nach rechts führen konnte. Dass rechte Bewegungen verharmlost werden und ihren Forderungen politisch sogar entgegengekommen wird, zieht sich als bundesweiter Trend durch die Jahrzehnte. Während – beispielsweise – Kli­ma­ak­ti­vis­t*innen schnell zu „Terroristen“ abgestempelt werden, diskutieren Politik und Medien oft über Jahre, ob rechte Parteien wirklich „rechtsextrem“ sind und ihre Wäh­le­r*in­nen nicht einfach nur „Wutbürger“ oder „Protestwähler“.

Ein entscheidender Wendepunkt ist 2010 Thilo Sarrazins Buch „Deutschland schafft sich ab“. Mit seinen Thesen bereitet Sarrazin die neurechte Wende vor

Heute finden sich die westdeutschen Hochburgen der AfD in Hessen – wo die Partei bei der Landtagswahl 2023 mit über 18 Prozent eines ihrer besten Ergebnisse im Westen erzielte –, in Rheinland-Pfalz, Baden-Württemberg und Bayern. Und es gibt neue Hochburgen dort, wo rechte Wäh­le­r*in­nen früher rar waren: In Molbergen, Niedersachsen, und Augustdorf, Nordrhein-Westfalen, erhielten rechte Parteien 2021 rund 20 Prozent der Stimmen. 1998 gab es in diesen Orten jeweils noch weniger als 1 und 3 Prozent rechte Wähler*innen.

In Ostdeutschland vermochten es rechte Parteien dagegen direkt nach der Wende noch nicht, Stimmen einzusammeln: Bei der Bundestagswahl 1994 gab es kaum Gemeinden, wo sie zusammen mehr als 5 Prozent der Stimmen erhielten. Doch das Potenzial gab es: Inzwischen wird die gewalttätige rechte Hegemonie in den Ost-Bundesländern in den 1990er Jahren als „Baseballschlägerjahre“ zusammengefasst. Einzelne besonders gewaltsame Ereignisse, wie die Pogrome von Rostock und Hoyerswerda, wurden überregional wahrgenommen – für viele Menschen war aber auch der Alltag von rechter Gewalt durchsetzt.

Quelle: Bundeswahlleiterin, Grafik: Lalon Sander

Dass rechte Stimmen im Osten inzwischen soweit normalisiert sind, dass die AfD die stärkste Kraft im Parteiensystem ist, führt der Soziologe Steffen Mau in seinem Buch „Ungleich vereint“ auf eine „Verfestigung grundlegender kultureller und sozialen Formen“ zurück, die der AfD nützen. In der Wiedervereinigung seien die Ostdeutschen in die „Rolle des Sich-Einfügens, Unterordnens und Lernens“ verwiesen worden und wurden auch ökonomisch ausgegrenzt: Massenhafte Arbeitslosigkeit und berufliche Deklassierungen lösten nachhaltige Verletzungen aus.

1998 gab es dann in Ostdeutschland bereits flächendeckend mehr als 5 Prozent für rechte Parteien. In diesen Jahren zog die DVU in die Landtage von Brandenburg und Sachsen-Anhalt ein und Anfang der 2000er Jahre schaffte auch die NPD in Sachsen und Mecklenburg-Vorpommern den Sprung in den Landtag.

Ende der 2000er Jahre flaute der Zuspruch für rechte Parteien kurzzeitig wieder ab. In Sachsen, wo die NPD 2006 zum zweiten Mal in den Landtag einzog, grenzten die demokratischen Parteien die Rechts­ex­tre­mis­t*in­nen dezidiert aus. Interne Konflikte führten dazu, dass die NPD-Fraktion deutlich schrumpfte.

In Mecklenburg-Vorpommern belasteten die Parteiverbotsverfahren die NPD, die hier ebenfalls nach zwei Legislaturperioden rausgewählt wurde. Und so bildet die Bundestagswahl 2009 vielerorts ein Zwischentief für rechtsextreme Parteien.

Doch ein Jahr später gab es einen entscheidenden Wendepunkt für die Szene: Thilo Sarrazin veröffentlichte sein Buch „Deutschland schafft sich ab“, das schon mehrere Jahre vor Gründung der AfD die neurechte Wende im rechtsextremen Milieu vorbereitete. Während die Neonazis der NPD noch relativ offen von Nationalsozialismus geschwärmt hatten, verankerte Sarrazin biologistische Positionen und eugenische Traditionen ohne direkten NS-Bezug breit in der deutschen Öffentlichkeit.

Dass er SPD-Mitglied war, verlieh seinen rechtsextremen Thesen ein neutrales Image. „Sarrazin war ein Rammbock“, sagte der rechtsextreme Verleger Götz Kubitschek in einem 2015 erschienenen Gesprächsband. Er sei „auf eine vorher nicht zu ahnende Weise durchgestoßen. Das war eine Resonanz­bodenerweiterung für uns, Begriffe wurden ventiliert, die wir seit Jahren zuspitzen, aber nicht im Mindesten so durchstrecken können, wie Sarrazin das konnte.“

Als sich dann 2013 kurz vor der Bundestagswahl die „Alternative für Deutschland“ gründete, wählten fast überall in Deutschland mehr als 5 Prozent der Menschen rechte Parteien und die AfD verpasste nur knapp den Einzug in den Bundestag. Ihr Erfolg zeigt, dass rechtsextreme Wäh­le­r*in­nen sehr wohl verstanden, wer sich hier anbietet. Von Anfang an war die Partei von Rechts­ex­tre­mis­t*in­nen durchsetzt. Björn Höcke trat beispielsweise bereits in den ersten Monaten bei. Ein Jahr später schaffte die AfD den Einzug in die Landtage von Thüringen, Sachsen und Brandenburg – in Sachsen und Thüringen wird sie mittlerweile vom Verfassungsschutz als rechtsextrem eingestuft.

In den Folgejahren wächst auch im Westen die Verunsicherung durch die kurz aufeinander folgenden Krisen: von der Krise der Flüchtlingspolitik 2015 über die Pandemie hin zum gestiegenen Handlungsdruck in der Klimakrise. 2017 steigt die Zustimmung für die AfD bei der Bundestagswahl auf über 12 Prozent. 2021 sinkt sie wieder leicht auf 10 Prozent. Doch der Rechtsruck ist geblieben und im Osten ist er so stark, dass im rechten Wahlergebnis 2021 die Grenzen der ehemaligen DDR wieder deutlich erkennbar sind.

Unsere Wahlanalyse zeigt: Fast überall in Deutschland ist inzwischen die Zustimmung für rechte Parteien weit höher als in den 1990er Jahren. In Ost und West formiert sich eine Abwehr gegen eine vielfältige Gesellschaft und gegen die durch den Klimawandel notwendig werdende ökologische Transformation, getrieben von der Angst, den eigenen Lebensstandard nicht mehr halten zu können. In Thüringen und Sachsen ist aus der Abwehrhaltung inzwischen ein Machtanspruch geworden.