Andreas Speit Der rechte Rand: Wie Rechte krimineller werden
Die Erfolge der Rechten bei den Wahlen in Thüringen und Sachsen verstellen den Blick darauf, dass auch der Westen ein Problem mit Neonazis hat. Dabei sticht besonders Hamburg heraus. Hier ist die Zahl der rechtsextremen Straftaten laut der Innenbehörde von 484 in 2022 auf 716 im vergangenen Jahr gestiegen –ein Zuwachs von 48 Prozent. Allein in Rheinland-Pfalz war der Anstieg größer.
„Diese Vorfälle sind keine Einzelfälle, sie ziehen sich durch die gesamte Stadt, durch alle gesellschaftlichen Schichten und Milieus sowie durch alle Institutionen“ sagt Nissar Gardi von Empower. Die Beratungsstelle für Betroffene rechter, rassistischer antisemitischer Gewalt erfasst selbst Anfeindungen und Angriffe und nennt für 2023 eine noch höhere Zahl als die Innenbehörde. Empower spricht von „insgesamt 993 neuen rechten, rassistischen und antisemitischen Vorfällen“. Das sind 2,7 Vorfälle pro Tag.
Die Differenz bei der Erfassung von rechten Straf- und Gewalttaten zwischen staatlichen Institutionen und zivilgesellschaftlichen Initiativen fällt seit Jahren auf. Das kann daran liegen, dass die Behörden Taten anders einordnen als die Initiativen. Eine weitere Ursachen dürfte sein, dass Betroffene sich aus verschiedenen Gründen nicht an die Polizei wenden, etwa aus Angst vor Rechtsextremen, die sie dann erneut bedrohen, oder aus Sorge, von der Polizei nicht ernst genommen zu werden.
Andreas Speitarbeitet als freier Journalist und Autor über die rechte Szene nicht nur in Norddeutschland.
Über 80 Prozent der Straftaten, so die Hamburger Innenbehörde, seien „Äußerungs- und Propagandadelikte“ –von Beleidigungen über die Verwendung verfassungswidriger Kennzeichen bis zur Volksverhetzung. Das Monitoring von Empower nennt als Tatmotiv in 348 Fällen Rassismus, gefolgt von dem Motiv Antisemitismus in 282 Fällen. Bei 248 Vorfällen wurden „mehrere Ideologien“ angeben. Das ist keine Überraschung, denn rechte Täter können einzelnen Menschen gleich mehrere Feindmerkmale zuschreiben.
Rechte Gewalt habe sich besonders häufig gegen die sexuelle Orientierung oder sexuelle Identität gerichtet, stellt Empower fest. Im Monitoring erfasst Empower insgesamt 100 Angriffe auf Menschen. Nur 59 Prozent wurden zur Anzeige gebracht. Die Zahl der durch die Hamburger Innenbehörde erfassten Gewalttaten liegt nur bei 55. Dieser Unterschied legt nahe, dass der von der Behörde erfasste Anstieg von 48 Prozent zu niedrig angesetzt sein dürfte.
Der Verfassungsschutz erklärt den Zuwachs unter anderem mit einer „größeren gesellschaftlichen Sensibilisierung“. Empower-Chefin Gardi, sagt der taz: „Augenfällig ist die Schwelle des Sag- und Machbaren unverfroren und ohne Hemmung gesunken.“ Diese Entwicklung könne nicht „losgelöst von dem betrachtet werden, was rechte Parteien in der Öffentlichkeit und im Parlament tragen“.
Die Daten zeigten, „wie bedroht das Leben und die Sicherheit von Betroffenen“ in der Hansestadt sei. Die besorgniserregenden Vorfallzahlen von antisemitischen, rassistischen und rechten Taten ließen auf breite Unterstützungsgemeinschaften für Täter*innen schließen.
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