Versäumnisse und Täuschung

Untersuchungsbericht zum tödlichen Hochhausbrand von Grenfell Tower in London vorgelegt

Aus London Daniel Zylberstzajn-Lewandowski

„Nicht alle tragen das gleiche Ausmaß an Verantwortung für das Desaster. Aber alle haben in der einer oder anderen Art dazu beigetragen – meist wegen Inkomptenz, aber in einigen Fällen durch Unehrlichkeit und Gier.“ Mit scharfen Worten begann der ehemalige Richter Sir Martin Moore-Bick am Mittwoch die Präsentation des Abschlussberichts der öffentlichen Untersuchung zum Londoner Hochhaus-Großbrand im Sozialwohnblock Grenfell Tower vor über sieben Jahren. Eine Mammutarbeit: über 300 Anhörungen, um die 320.000 Dokumente.

72 Menschen, 18 davon Kinder, starben am Morgen des 14. Juni 2017 bei einem Großbrand im 24-stöckigen gerade fertig renovierten Grenfell Tower aus den 1970er Jahren. Sie alle erstickten an giftigen Gasen und am Rauch, bevor viele von ihnen außerdem verbrannten. Die erste Phase der Untersuchung hatte festgestellt, dass das Feuer über die neue metallische Außenwand, die einfach an die alte Betonwand drangesetzt worden war, in nur 18 Minuten aus dem vierten Stock über 19 Stockwerke bis ans Dach stieg und sich dann um das Haus herum entfaltete, dank der neuen brennbaren Außendämmung und Fassade. Anweisungen der Rettungsdienste an die Bewohner, in ihren Wohnungen zu warten, wurden für viele zum Todesurteil. Die erste Phase der Untersuchung behandelte den Brand an sich, die zweite und letzte Phase die vorherigen Renovierungsmaßnahmen und die Bergungsmaßnahmen danach. Auf über 1.800 Seiten kann man nun jedes Detail nachlesen.

„Der Brand ist die Folge einer Aneinanderreihung von Fehlern der Regierung und anderer Körperschaften über Jahrzehnte“, liest man im Bericht. Sie seien ihrer Verantwortung nicht nachgekommen, insbesondere bezüglich der Anwendung von brennbaren Materialien an den Außenwänden von Hochhäusern. In seiner Präsentation unterstrich Moore-Bick Mängel: eine schlecht organisierte Ministerialabteilung, wo ein niederer Beamter allein die Verantwortung für die gesamte Feuersicherheit im Bauwesen trug. Die Privatisierung der zuständigen Behörde BRE (Building Research Establishment). Das Fehlen einer robusten Prüfstelle, die hätte verhindern können, dass Bauunternehmen bei Tests ihrer Materialien schummeln. Weitere Abschnitte behandeln das von der Bezirksverwaltung bestellte Management des Hochhauses. Zum Anbau einer brennbaren Außenwand sei es aus Kostengründen gekommen. Weder Ar­chi­tek­t:in­nen noch Baufirmen hätten ihre Pflichten verstanden oder beachtet. Die mit der Endabnahme beauftragten Prüfer hätten keinen Endbericht verfasst und dies sei auch nicht verlangt worden.

Keir Starmer entschuldigt sich

Nach Hunderten Seiten Versäumnisse, Inkompetenz und Täuschung sind die Empfehlungen des Untersuchungsberichts nahezu schlicht. Zentral sei die Schaffung einer einzigen öffentlichen Prüfstelle. Zusätzlich müsste eine Art Chef­be­ra­te­r:in für das Bauwesen die Regierung beraten und die Industrie überwachen.

Die Überlebendenorganisation Grenfell United nennt den Untersuchungsbericht einen wichtigen Schritt. Der Bericht zeige, dass sich im Vereinigten Königreich Amateure als Experten verkaufen und so Menschenleben gefährden könnten.

Labour-Premierminister Keir Starmer reagierte umgehend im Unterhaus. In Anwesenheit einiger Überlebender und Angehörigen entschuldigte er sich im Namen der Regierung und sagte, er werde alle 58 Empfehlungen einsehen und in sechs Monaten beantworten. Alle Regierungsämter und Behörden seien angewiesen, nicht mit den im Bericht erwähnten Unternehmen zu arbeiten. „Wir werden den Generationswechsel in Sicherheit und Qualität für alle in diesem Land im Namen der Erinnerung an Grenfell liefern“, sagte Starmer.

Der nächste Schritt ist nun die strafrechtliche Verfolgung der Verantwortlichen. Die Londoner Polizei hatte immer gesagt, dass dies erst nach Ende der Untersuchung beginnen könne, dass jedoch Ermittlungen parallel zur Untersuchung laufen. Die Akten werden nun der Staatsanwaltschaft übergeben. 19 Unternehmen oder Organisationen und 58 Personen sind strafverdächtig. Neben Befragungen von 50 Personen sammelte die Polizei 27.000 Teile zur forensischen Untersuchung in einer großen Halle. Mit dem Ende der Beweisauswertung wird nicht vor Ende 2026 gerechnet.