Russlands Angriff auf die Ukraine: An der Grenze
Die ukrainische Armee startete ihren Vorstoß ins russische Kursk nahe der Stadt Sumy. Wie blicken die Menschen dort auf den Vormarsch?
Raketeneinschläge und Bombenangriffe sind häufiger geworden, seit die ukrainische Armee von hier aus am 6. August überraschend die Grenze nach Russland überquert hat. Es werden noch gut 18 Stunden Alarm am Stück dazukommen, bis es am Dienstagabend Entwarnung gibt. Das ist viel, selbst für eine Region an der Grenze zu Russland. Alarm gibt es in Sumy oft, denn aus der Nachbarregion Kursk fliegen häufig Drohnen in den ukrainischen Luftraum.
Sumy ist das administrative und wirtschaftliche Zentrum der gleichnamigen Region. Die Stadt hat rund eine Viertelmllion Einwohner. Knapp 40 Kilometer sind es zur russischen Grenze auf dem kürzesten Weg.
Die Stadt wurde auf einem Hügel über dem Fluss Psel von Kosaken gegründet: Ukrainern, die ihren meist polnischen Adelsherren weiter westlich davongelaufen waren. In dieser Gegend östlich des Dnipro hatten sie sich in der kaum bevölkerten Steppe niedergelassen. Ihre Anführer verbündeten sich im 17. Jahrhundert mit dem Moskauer Zaren, um gegen Polen oder Tataren zu kämpfen. Der Zar versprach ihnen dafür Autonomie. Doch die russischen Herrscher, inzwischen nach St. Petersburg umgezogen und sich Kaiser nennend, fühlten sich irgendwann nur noch an den Teil des Deals gebunden, der ihnen passte.
Am Horizont steigt Rauch auf
Heute ist Sumy wieder ein Außenposten. Rund 330 Straßenkilometer sind es von Kyjiw. Mit dem blau-gelb lackierten Zug dauert es sechs Stunden. Er ist alt, aber pünktlich. Während er durch Maisfelder und Birkenwälder rumpelt, greift Russland am Montag die Ukraine mit Raketen, Marschflugkörpern und Drohnen an. Beim Nachzählen stellt sich später heraus, dass es der bisher größte Luftangriff in diesem Krieg ist. 15 von 26 ukrainischen Regionen werden attackiert. Es gibt mehrere Tote. Hauptziel ist die Energieinfrastruktur. Seit dem Frühjahr zerstört Russland die Energieerzeugung der Ukraine. Das soll die Rüstungsindustrie lähmen, aber auch den Widerstandswillen brechen.
Auch die Region Sumy wird an diesem Tag von Russland aus der Luft angegriffen. Aber hier geht es mehr darum, den rückwärtigen Raum der ukrainischen Armee zu treffen. Spuren sieht man auf dem Weg: In Woroschba, wo die Bahnlinie am nächsten an der russischen Grenze verläuft, ist ein alter Wasserturm am oberen Ende wie von einem Riesen auseinandergerissen. In Tjotkino, dem zehn Kilometer entfernten russischen Grenzort, wird gekämpft. Andere Gebäude sind mit Splitterspuren übersät. Auf dem Rangierbahnhof stehen verbogene Güterwagons. An ein altes Lagerhaus hat jemand mit blauen und gelben Buchstaben „gefährliche Gegend“ geschrieben. Am Horizont steigt Rauch auf.
Serhiy ist mit seiner Frau Julia und dem zehnjährigen Dima in Konotop zugestiegen. Das ist auf halbem Weg nach Kyjiw. Dort haben sie Urlaub gemacht, erzählt er und zeigt auf dem Smartphone Fotos im und am Hotelpool. „Wir leben in Sumy“, sagt er. Trotz der russischen Angriffe seien sie bisher geblieben. „Das ist unser Zuhause.“ Aber natürlich, wenn sich die Situation verschlechtere, müsse man vielleicht reagieren.
Möglicherweise hat Serhiy aber auch eine andere Wahrnehmung von Gefahr. Der Mittdreißiger ist Berufssoldat und dient bei einer Aufklärungseinheit, die auch hinter den russischen Linien eingesetzt wird. Deshalb soll es keinen vollen Namen von ihm geben. Er zeigt Fotos von sich in Uniform in Cherson am Dnipro mit einem Boot, von seinen Kameraden, von verschiedenen Handfeuerwaffen. Auf einem Foto hält er ein Gerät, das mit elektromagnetischen Wellen Drohnen zum Absturz bringen kann. „Das war in Russland“, sagt er.
Daueralarm, Stromausfall, Hitzewelle
Ob er die Offensive nach Kursk gut findet, während die ukrainischen Truppen im Donbass langsam zurückweichen müssen und es heißt, es fehle Personal? Serhiy sagt, er wisse es auch nicht. „Aber besser wir kämpfen bei ihnen, als die bei uns.“
Trotz Daueralarm, Stromausfall und Hitzewelle ist die Innenstadt von Sumy erstaunlich belebt. Menschen gehen einkaufen. Auf den Bürgersteigen brummen die Dieselgeneratoren. Die Fußgängerzone ist von schattenspendenden Alleebäumen gesäumt. Das ist hilfreich bei 33 Grad. Das Lokal Dymna Khata trifft offenbar den Geschmack: Draußen sind vier von fünf Tischen besetzt, er gibt Eiskaffee, selbst gemachte Limonade und eine anhängliche Katze. Im klimatisierten Innenraum zocken Teenager ein Konsolenspiel. Allerdings sieht man der Straße auch an, dass sie mal bessere Zeiten hatte. Jeder dritte Laden ist geschlossen und auch ein paar der Gebäude im Stil des russischen Spätbarock sehen aus, als ob sie auch ohne Krieg kollabieren könnten.
Gründlich restauriert kommen dagegen die Kirchen daher. Dienstagmittag öffnet sich die Tür der Heilig-Auferstehungs-Kathedrale in der Wosskresenski-Straße. Sie gehört zur Orthodoxen Kirche der Ukraine, also der, die keine Verbindungen nach Moskau hatte. Ein Trauermarsch ist zu hören. Voran gehen Soldaten mit der ukrainischen Flagge, einer mit einem orthodoxen Holzkreuz, ein weiterer trägt eine gerahmte Fotografie des Gefallenen. Dann kommen sechs Priester, sechs Soldaten schultern den Sarg. Danach die Angehörigen und ein Dutzend Trauergäste. Igor Drobnov ist am 16. August mit 29 Jahren gestorben.
Nur wenige hundert Meter weiter steht der „Zentralniy Rynok“. In der kreisrunden Markthalle gibt es im Erdgeschoss frische Lebensmittel, im Keller Bohrmaschinen und Batterien und außenrum allerlei Kleidung. Ein Rynok ist ein Barometer einer ukrainischen Stadt: Ist nicht viel los und die Händler geben Rabatte, sind die Zeiten schlecht. Dementsprechend geht es Sumy mittelmäßig. An der Fleischtheke wetteifern gleich sechs Verkäuferinnen um die Aufmerksamkeit von nur halb so vielen potenziellen KundenInnen. Natascha und Marina raten, der Schweinenacken eigne sich auch gut zum Grillen.
Betonsperren und Stacheldraht
Oksana hat einen Obst- und Gemüsestand in der Halle. Auch sie will es beim Vornamen belassen. „Das Gemüse ist aus Gärten in der Region“, sagt sie. Und tatsächlich haben die Tomaten dieses satte Rot, das man im Supermarkt selten findet. „Die Wassermelonen sind auch aus der Ukraine. Die Zitrusfrüchte aber aus Spanien.“ Als die großangelegte Invasion Russlands vor zweieinhalb Jahren begann, sei sie für ein paar Monate zu ihrer Tochter geflüchtet, die in Italien lebe. „Aber da habe ich mich nicht wohl gefühlt.“ In Sumy habe sie ihr Haus, ihre Arbeit und ihre Freunde.
Angst habe sie natürlich trotzdem, sagt sie. In den vergangenen Wochen sind auch im Stadtgebiet Raketen und Bomben eingeschlagen. In einem Plattenbaugebiet am anderen Flussufer war eine Woche zuvor eine Rakete auf einem Parkplatz explodiert. Ein Dutzend Autos brannte aus, aber zum Glück hatte die Rakete das Wohnhaus verfehlt. Oksanas Augen werden ein bisschen feucht, als sie danach gefragt wird. Dann will sie lieber wieder über das Obst reden.
Oberbefehlshaber Olksandr Syrskiy, seit Februar im Amt, sieht den Vorstoß nach Kursk positiv. „Wir kontrollieren mehr als 100 Siedlungen und 1294 Quadratkilometer“, sagte er am Dienstag bei einer Pressekonferenz. Die Fläche ist größer als alles, was Russland seit Jahresanfang insgesamt eingenommen hat. „Im Süden der Ukraine hat der Feind seine Aktivität reduziert.“ Rund 30.000 Soldaten seien von dort Richtung Kursk verlegt worden, Tendenz steigend.
Dieser Text stammt aus der wochentaz. Unserer Wochenzeitung von links! In der wochentaz geht es jede Woche um die Welt, wie sie ist – und wie sie sein könnte. Eine linke Wochenzeitung mit Stimme, Haltung und dem besonderen taz-Blick auf die Welt. Jeden Samstag neu am Kiosk und natürlich im Abo.
Gut vernetzt in Sumy ist Serhiy Malyuk. Der 56-jährige Fotograf hat früher an der Universität unterrichtet. Inzwischen arbeitet er für eine Hilfsorganisation. Er erinnert sich an die ersten Tage und Wochen der Invasion. Sumy entging 2022 nur knapp der Besetzung. In der Stadt waren nur wenige ukrainische Truppen, aber hunderte Menschen hatten sich freiwillig zur Territorialverteidigung gemeldet. „Wir hatten hier früher viel Handel mit Russland, aber es stand nie infrage, wohin wir gehören.“ Die improvisierte Truppe blockierte die wichtigen Einfallstraßen. „Die Russen wollten schnell weiter nach Kyjiw“, sagt er. Also nahmen sie einen anderen Weg.
Tatsächlich sieht man in den Vororten von Sumy an einigen Stellen vorbereitete Schützengräben und Unterstände, an Straßenkreuzungen und Bahnübergängen liegen Betonsperren und Stacheldraht bereit. Man hat sich also auf die Verteidigung vorbereitet. Doch anders als im Frühjahr, als es der ukrainischen Armee an Munition mangelte, weil die Republikaner im US-Kongress das Budget blockierten, konnte sie diesmal selbst aktiv werden.
Dass die russischen Truppen nun weiter entfernt von der Stadt stehen, ist offenbar psychologisch wichtig. Die Gefahr ist dennoch da, nur anders. Die Gleitbomben, die russische Flugzeuge noch über eigenem Gebiet ausklinken, können über Dutzende Kilometer ihren Weg auch bis nach Sumy finden. „Natürlich haben wir Angst“, sagt Malyuk. „Aber es geht hier nicht nur um uns, sondern um das ganze Land.“
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Vorgezogene Bundestagswahl
Ist Scholz noch der richtige Kandidat?
113 Erstunterzeichnende
Abgeordnete reichen AfD-Verbotsantrag im Bundestag ein
USA
Effizienter sparen mit Elon Musk
Ein-Euro-Jobs als Druckmittel
Die Zwangsarbeit kehrt zurück
Bürgergeld-Empfänger:innen erzählen
„Die Selbstzweifel sind gewachsen“
Aus dem Leben eines Flaschensammlers
„Sie nehmen mich wahr als Müll“