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Autorin über Pommersche Herkunft„Ich wollte Verdrängtes erzählen“

Ulrike Dotzer berührt in ihrem Drei-Generationen-Roman „Goldener Boden“ einige Tabus. Dazu zählen ihr Nazi-Großvater und Pommerns NSDAP-Euphorie.

„Arbeitsbücher für Ausländer“: Erstmals 2011 erlaubte eine Ausstellung den Blick auf massenhafte Zwangsarbeit in Pommern Foto: Sauer/dpa
Interview von Petra Schellen

taz: Frau Dotzer, seit wann wissen Sie, dass Sie von pommerschen Handwerkern abstammen?

Ulrike Dotzer: Seit meiner Kindheit. Das gehörte zu den rituellen Erzählungen während der Familientreffen. Vor allem meine Großmutter sprach immer wieder von der herrlichen Zeit in Stolp, dem heute polnischen Słupsk, auch vom Friseurberuf, der in meiner Kindheit noch sehr präsent war. Eine meiner Tanten führte die Familientradition fort und arbeitete als selbstständige Friseurin. Mein Ur-Urgroßvater war noch Schmied gewesen und mein Urgroßvater dann Friseur.

taz: In Ihrem Drei-Generationen-Roman „Goldener Boden“ emigriert ein 19-Jähriger 1896 aus Pommern in die USA. Hat er ein Vorbild in Ihrer Familie?

Dotzer: Ja, meinen Urgroßvater. Ich habe das recherchiert und im Auswanderermuseum in der Hamburger Ballinstadt seinen Namen auf den Passagierlisten gefunden. Über seine Erfahrungen in Amerika wissen wir nichts. Es ist nur verbürgt, dass er nach drei Jahren zurückkam. Die Erfahrungen Gustavs in den USA im Roman sind fiktiv.

taz: Wann haben Sie bemerkt, dass die familiären Erzählungen über Ihre Vorfahren lückenhaft waren?

Dotzer: Als mir in der Schule beim Thema Nationalsozialismus klar wurde, dass die Deutschen den Zweiten Weltkrieg verschuldet hatten. Das war ein riesiger Kontrast zur Haltung meines Großvaters, der – das wusste die ganze Familie – nach wie vor Antisemit war und die „jüdische Weltverschwörung“ dafür verantwortlich machte.

taz: Was hat er selbst über die NS-Zeit erzählt?

Dotzer: Dass er während des Kriegs Gendarm gewesen sei. Ich habe später recherchiert, dass es damals eine Landgendarmerie gab, als Teil des NS-Apparates. Am frappierendsten war für mich die Entdeckung, dass mein Großvater eine Blutgruppen-Tätowierung unter dem Arm hatte. Er war also in der SS gewesen. Auf meine Nachfrage bejahte er, sagte aber, er habe nie einen Menschen getötet. Seine Erzählung ging so: Er, der gelernte Kaufmann, war Anfang des Krieges zur Polizei gewechselt, um nicht als Soldat eingezogen zu werden. Das mag auch sein. Tatsächlich war die Polizei aber eine ideologische Speerspitze des NS-Staats. Nahezu alle Polizisten traten früher oder später der SS bei.

Mich hat die Begegnung mit zwei einstigen Zwangsarbeitenden sehr beeindruckt. Sie hat mir bewusst gemacht, wie prägend dieses Leid Hunderttausender bis heute im polnischen Kollektivgedächtnis ist

taz: Ihr Roman benennt auch die starke NSDAP-Unterstützung in Pommern. Warum war Ihnen das wichtig?

Dotzer: Weil ich glaube, dass die totale Begeisterung für die NSDAP in ländlichen Regionen bis heute unterschätzt wird. Pommern, Ostpreußen und Dithmarschen waren sehr früh stramm nationalsozialistisch. Bei Ostpreußen und Pommern erklärt es sich zum Teil dadurch, dass sie nach dem Ersten Weltkrieg die Verschiebung der Grenzen erlebt hatten. Sie fanden, dass durch den Friedensvertrag von Versailles die polnische Grenze viel zu nah an die Kreisstadt herangerückt war. Außerdem hatten sie in dieser landwirtschaftlich geprägten Gegend wirtschaftliche Einbußen erlebt und fühlten sich von Berlin abgehängt.

taz: Wie präsent war die NSDAP im dortigen Alltag?

Dotzer: Das habe ich durch Archivrecherchen gemeinsam mit Robert Kupisinski, dem Archivar des Mittelpommerschen Museums in Słupsk, ergründet. Wir haben die Lokalzeitungen von damals angeschaut, die in polnischen Archiven leichter zugänglich sind als in deutschen. Wir haben uns auf die Stolper Post und die Zeitung für Ostpommern konzentriert. Es war frappierend, wie präsent die NSDAP war und wie klar bestimmte Dinge benannt wurden. Etwa die harten Strafen für Juden, die man – trotz Verbots durch die NSDAP – am Ostseestrand erwischte.

taz: Gab es Zwangsarbeitende im Ort?

Dotzer: Ja. Der große Teich vor einer Stolper Schule hieß im Volksmund „See Genezareth“, eine höhnische Anspielung auf jüdische ZwangsarbeiterInnen. 1942 lebten 30.000 Zwangsarbeitende in Stadt und Landkreis Stolp – bei insgesamt 80.000 EinwohnerInnen. Auch das Dienstmädchen unserer Familie war eine polnische Zwangsarbeiterin.

Im Interview: Ulrike Dotzer

Jahrgang 1961, arbeitete als Redakteurin für das Hamburger Abendblatt, den NDR und Arte. Sie liest aus ihrem Roman „Goldener Boden“, 608 S., 26 Euro.

Was wissen Sie über sie?

Sie hieß „Luzie“, in meinem Roman „Lucja“. Ich habe herauszufinden versucht, was aus ihr wurde und mich bei der Słupsker Organisation ehemaliger ZwangsarbeiterInnen erkundigt, bin aber nicht fündig geworden. Mich hat allerdings die Begegnung mit zwei einstigen Zwangsarbeitenden sehr beeindruckt. Sie hat mir bewusst gemacht, wie prägend dieses Leid Hunderttausender bis heute im polnischen Kollektivgedächtnis ist. Auch auf dieses hierzulande oft ausgeblendete Thema wollte ich mit meinem Roman hinweisen.

taz: Ihre Großmutter floh 1945 aus Stolp nach Thüringen in der sowjetischen Besatzungszone (SBZ) und 1949 weiter nach Kiel. Warum?

Dotzer: Erstens, weil die Familie – ihre vier Kinder, der aus Kriegsgefangenschaft zurückgekehrte Ehemann und ihr Vater – in Bad Bibra, einem Dorf an der Grenze zwischen Thüringen und Sachsen-Anhalt, armutsgefährdet war. Der zweite Grund: Die Rote Armee erschoss auf ihrem Vormarsch alle deutschen Polizisten als Handlanger des NS-Regimes. Auch die DDR, die aus der SBZ hervorging, verfolgte Nazis intensiver als die Bundesrepublik. Die Familie floh also, weil mein Großvater mit seiner Inhaftierung rechnen musste. Später in Schleswig-Holstein hat das niemanden interessiert. Da war er der Friseur aus Stolp.

taz: Erfüllt der Roman für Sie eine persönliche Funktion?

Dotzer: Ja. Es ging mir darum, von Verdrängtem zu erzählen, weil ich dieses Schweigen als typisch für viele deutsche Familien empfinde. Ich erzähle, wie es eine Familie prägte, die die NS-Vergangenheit immer unter den Tisch kehren musste, auch um zu überleben. Und ich spüre, wie sich das bis in meine Generation fortsetzt: als Scheu, Konflikte anzusprechen und auszutragen.

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