piwik no script img

In Francies Reich

Von Ina Vultchanova

Das erste, was ich sah, als wir aus dem Auto stiegen, waren die Möwen. Unmengen von Möwen, die in einem puren Entzücken am Himmel schwebten, als hätten sie einen ganzen Fischschwarm entdeckt. Sie schwebten eigentlich um den Rauch aus dem Schornstein des Fischrestaurants, das an der Autobahn zwischen den Bussen lag.

Der See war von der Straße aus zu sehen, unten zwischen zwei Blechhütten – ein kleines Stück Wasser, eine kleine Bucht mit zwei Sonnenschirmen und einem Jetski. Das Ufer sah schäbig aus und das Wasser schmutzig. Und dann schaute ich nicht nach unten, sondern nach oben und sah den Sewansee – riesig, magisch, milchig grün, von allen Seiten von grauen kahlen Gipfeln und weißen Wolken umgeben. Ich nannte ihn: Francies See.

Denn ich erinnere mich an diesen See, auch wenn ich ihn jetzt zum ersten Mal sehe.

Ich denke an eine Begegnung mit Francie. In meiner Erinnerung sind Hitze, Wellen, die gegen das Ufer schlagen, und Sand, der überall am Körper klebt. Wir stehen nebeneinander am FKK-Strand von Sozopol an der bulgarischen Küste. Da sind nasse Haare und verbrannte Haut, da sind Freunde, die am Strand Bier trinken, und Francie, die ein langes weißes Kleid und einen Strohhut mit einer Schleife trägt.

Francie kleidete sich immer wie eine Dame und ging sogar auf der Straße mit einem kleinen Sonnenschirm, damit ihr Gesicht nicht braun wurde. Francie war weiß und mollig und sah aus wie die Mutter der ganzen spindeldürren Bande in verblichenen Shorts und abgewetzten T-Shirts, die am Strand herumlungerte. Außerdem war Francie eine Schriftstellerin, das hat sie uns selbst gesagt.

Ich glaubte ihr nicht so recht, denn ich war Studentin und kannte die Namen der meisten Schriftsteller, und von einer solchen Autorin hatte ich noch nie gehört. Aber Francie behauptete, sie habe bereits zwei Romane geschrieben und schreibe jetzt an einem dritten, über den Sewansee, einen See, der im Himmel liegt. Sie erzählte uns von dem See und von den Armeniern, wie sie auf der Flucht waren und wie ihr Volk nach Bulgarien kam. Sie sagte, sie würde eines Tages sehr reich werden und ein Haus am Schwarzen Meer bauen. Sie wolle es genau hier bauen, am Strand von Sozopol.

Niemand konnte genau sagen, wann Francie scherzte und wann nicht, denn manchmal war sie furchtbar ernst und manchmal benahm sie sich wie ein neckisches Kind. Sie rannte ohne Kleidung am Strand entlang und rief „Guckt mal, eine nackte Schriftstellerin, guckt mal, eine nackte Schriftstellerin!“

Francie ist die erste armenische Schriftstellerin, die ich kenne. Ich bin sicher, dass sie eine Schriftstellerin war, obwohl sie keine Romane veröffentlicht hat und ich nie ihren richtigen Namen erfahren habe. Francie kam im nächsten Sommer nicht mehr nach Sozopol und wir erfuhren, dass sie im Winter davor gestorben war. Aber von da an nannten wir den Ort, an dem wir am Strand immer wieder zusammengesessen hatten, Francies Haus, wenn auch ihr Haus schon irgendwo im Himmel war.

Und jetzt bin ich hierher gekommen, um ihren himmlischen See zu sehen.

Er ist so schön, wie sie ihn beschrieben hat, obwohl ich nicht glaube, dass sie ihn je gesehen hat.

Aus dem Bulgarischen übersetzt von Gergana Fyrkova.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen