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Fotoserie „Zeitungsleser:innen“Ein Display aus Papier und Tinte

Der Fotojournalist Eddy Posthuma de Boer fotografierte über Jahrzehnte Menschen beim Zeitungslesen. Das Museum für Kommunikation zeigt die Serie.

Nicht viel los, Zeit zum Zeitunglesen: Ein thailändischer Verkäufer in den 80ern Foto: © Eddy Posthuma de Boer

Berlin taz | Das Smartphone ist im öffentlichen Raum allgegenwärtig. Ob in der U-Bahn, beim Warten, beim Essen, beim Gehen oder sogar in der Kneipe – überall sind Menschen in ihre Handydisplays vertieft, mit Kopfhörern im Ohr perfekt abgekapselt von der Außenwelt. Ach, wie schön war es im analogen Zeitalter, als Menschen ausgelassen in den Öffis plauderten und ständig neue Freundschaften an der Bushaltestelle schließen. Oder?

Die Foto-Ausstellung „Zeitungsleser:innen“, die ab Mittwoch im Museum für Kommunikation zu sehen ist, zeigt: Das Bedürfnis, sich im Trubel der Großstadt für einige Minuten in eine andere, medienvermittelte Welt zurückzuziehen, gab es schon lange vor dem Smartphone. Drei Männer warten an einer Bushaltestelle; obwohl sie dicht beieinanderstehen, nehmen sie kaum Notiz voneinander und sind völlig in ihre Zeitungen vertieft. Diese 1985 in Westberlin aufgenommen Szene könnte auch von heute sein, wenn man die Zeitungen durch Smartphones ersetzen würde.

Rund 80 Fotografien des 2021 verstorbenen niederländischen Fotojournalisten Eddy Posthuma de Boer stellt das Museum in Mitte noch bis zum Januar aus. Über die Jahrzehnte fotografierte Posthuma de Boer Menschen beim Zeitunglesen. Die über fast alle Kontinente hinweg entstandenen Aufnahmen zeichnen ein gefühlvolles Bild einer heute stark an Bedeutung verlierenden Medienpraktik.

Beim Betrachten der Bilder wird deutlich, warum das Smartphone die gedruckte Zeitung so einfach ersetzten konnte. Taxifahrer in New York, die mit geöffneter Fahrertür zeitunglesend auf Kunden warten. Ein Gondoliere in Venedig, der sich langgefläzt in seinem Boot eine Pause gönnt. Ein Geschäftsmann, der in einem verlassenen Fahrgeschäft hockend auf dem Dach eines Tokioter Hochhauses vermutlich dem Stress des Alltags entfliehen will, indem er ein paar Seiten durchblättert: Kurze, leicht verdauliche Informationshappen, die sich auch in eine Raucherpause quetschen lassen, und die allgegenwärtige Verfügbarkeit sind Qualitäten, mit der die Tageszeitung schon im Analogen hervorstach und die nun vom Smartphone perfektioniert wurden.

Zeitunglesen war männlich

Doch das Zeitungslesen, auch das wird in der Ausstellung deutlich, hat ganz eine ganz eigene soziale Dimension. Es sind bis auf wenige Ausnahmen Männer, die Posthuma de Boer abgelichtet hat. Kein Zufall, denn zum Selbstbild des modernen Mannes gehört, über das politische Tagesgeschehen informiert zu sein. Wer am Stammtisch mitreden will, muss Zeitung lesen. Wer Zeitung liest, zeigt anderen, dass er mitreden kann.

Frauen hingegen mussten damals mehr noch als heute den überwiegenden Teil der Sorgearbeit, wie Kindererziehung oder Hausarbeit übernehmen. Für eine genüssliche Zeitungspause bleibt da häufig keine Zeit. Eine Aufnahme aus einem thailändischen Ladengeschäft aus den 1980er Jahren verdeutlicht diese Ungerechtigkeit: Während der Mann in die Lektüre vertieft ist, stillt die Frau das Baby.

Ob dem öffentlichen Zeitungslesen nachzutrauern ist, bleibt dabei jedem selbst zu überlassen. Wer weiß, vielleicht sehen wir in 30 Jahren eine Ausstellung über Smartphone-Zombies in U-Bahnen.

„Zeitungsleser:innen“, Ausstellung im Museum für Kommunikation, Leipziger Straße 16.

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