Der Rechtsruck und die Arbeiterklasse: Reaktionäre Hinterwäldler?

In den populären Rechtsextremismus-Analysen steckt viel Verachtung für die arbeitenden Klassen – und eine Verniedlichung des Faschismus.

„Man hat Probleme, aber die interessieren niemanden mehr“: Protest gegen die Hartz-Reform in Erfurt im August 2004 Foto: Martin Schutt/picture-alliance

Gelegentlich kommt es vor, dass Probleme, die lange verdrängt wurden, nicht mehr ignoriert werden können. „Endlich“, denkt man sich dann. Und allmählich schleicht sich dennoch ein Unwohlsein ein, das Gefühl, dass auch das Richtige leider auf die falsche Weise erzählt wird. Das Gefühl, dass das auch wieder nicht so stimmt. Auch wieder falsch ist, nur auf andere Weise.

So ähnlich geht es mir seit einiger Zeit, wenn die Rede auf „die Arbeiterklasse“ kommt. Die ist seit einigen Jahren wieder in aller Munde. Jahrzehntelang hatte man die Verwundungserfahrungen der arbeitenden Klassen ignoriert, deren Empfindung, nicht mehr als zentral wahrgenommen zu werden, sondern als randständig. An Warnungen hat es nicht gefehlt.

Da stauen sich Kränkungen auf, materielle Bedrohungen und Abstiegserfahrungen. Und andererseits ein emotionaler Groll durch das Gefühl: Man hat Probleme, aber die interessieren niemanden mehr, weil ja jetzt alle „neue Mitte“ sein wollen, die modernen urbanen Aufsteigersegmente.

Wurde „man“ analysiert, fühlte sich das wie eine Beleidigung an, man wurde „Modernisierungsverlierer“, „Abgehängte“, oder sonst etwas genannt und es wurde über einen im Tonfall eines inneren Kolonialismus geredet. Die, die nicht mehr mitkommen; die, die halt nicht beweglich und flexibel genug sind, sich schnell genug aus ihren Welten davonzumachen.

Das Image der Arbeiterklasse orientiert sich an Rentnern

Man hat, grob gesagt, zwei Jahrzehnte lang ignoriert, welch ein explosiver Groll sich da zusammenbraute, bis es dann auch der letzte Ignorant begriff, was spätestens mit dem Brexit-Votum und der Trump-Wahl der Fall war. Plötzlich waren die „politisch Vergessenen“, die „White Working Class“, die einheimische Arbeiterklasse das große Thema. Autorinnen und Soziologen schwärmten aus, sie zu ergründen wie eine fremde Ethnie.

Es ging sofort mit neuen Falschheiten einher. Arbeiterklasse, die wurde da erst recht homogenisiert, der prototypische „Arbeiter“ ist in diesen Analysen der hinterwäldlerische Redneck oder der Wutbürger. Aber die „arbeitenden Klassen“ (besser, wir halten uns an den Plural), sind in Wirklichkeit vielgestaltiger. Das beginnt schon bei der simplen Soziologie: Es sind nicht alle Männer und nicht alle Beschäftigte im produzierenden Gewerbe.

Arbeiterklasse, das sind ja alle, sagen wir es einmal ganz grob, die ihre Arbeit nicht im Homeoffice erledigen können und bei denen es wirtschaftlich knapp ist, das können vom Regalschichter über die Kassiererin, den Lkw-Fahrer, die Montage­arbeiterin am Fertigungsband alle möglichen Menschen sein, vom Elektroinstallateur bis zu den Leuten, die die Glasfaserkabel verlegen.

Hinzu kam: Im phantasmagorischen Bild, das hier häufig gezeichnet wird, ist die „abgehängte Arbeiterklasse“ von weißen, älteren Männern repräsentiert, die allesamt konventionelle Werte aus den fünfziger Jahren haben. Das Image des Arbeiters wird an Leuten modelliert, die meist Rentner sind.

Schon Vance' Klassenanalyse in Hillbilly-Ellegie war wirr

Die arbeitenden Klassen bestehen aber heute nicht unwesentlich aus Zwanzigjährigen, Dreißigjährigen, Vierzigjährigen und Fünfzigjährigen, die ganz unterschiedliche Werte haben. Doch im populären Phantombild sind sie alle rechts, kulturell konservativ, antiwoke, antifeministisch, homophob usw. Alles ziemlich grob holzschnittartig.

Die Milieus sind weit heterogener. Manche sind reaktionär, manche progressiv und manche teils-teils. Manche innerlich frustriert, viele auch nicht. Die einen prekär, die anderen einigermaßen wohlsituiert.

Ein begrüßenswerter, ja sogar in gewissem Sinne „progressiver“, „linker“ Vorgang, nämlich das wachsende Augenmerk auf die Verwundungserfahrungen und Krisen der arbeitenden Klassen, bekam eine rechte Schlagseite, indem man die arbeitenden Klassen zum Bollwerk des Reak­tionären stilisierte. Man las J. D. Vance’ Bestseller „Hillbilly-Elegie“ als eine Klassenanalyse, die die Augen öffnet, und wundert sich jetzt, dass der ­gleiche Vance zum völlig wirrköpfigen Running Mate von Donald Trump wurde. Womöglich steckt aber schon in der „Klassenanalyse“ Wirrköpfigkeit drin.

Paradox ist, dass man uns bis heute erklärt, dass es Klassen gar nicht mehr gäbe, wenn man aber dann das Wählermilieu der Rechtsextremen analysiert, dann kommt „die Arbeiterklasse“ wieder, aber sie kommt nur als „enttäuschte Masse“, als „anonyme Unterschicht“ (Thomas Köck) vor. Die Arbeiterklasse – mal existiert sie nicht, mal wird sie zum Monster stilisiert.

Wer rechtsextrem wählt, ist Rechtsextremist

Halbwahrheiten werden zu Ganzfalschheiten. Im Grunde beruht die gesamte „Grundphilosophie“ des „Bündnisses Sahra Wagenknecht“ auf diesen richtigen Falschheiten oder falschen Richtigkeiten. Neue Fragwürdigkeiten werden in die Welt gesetzt. Es hat sich beispielsweise eingebürgert, dass die Wähler und Wählerinnen rechtsextremer Parteien als verwundete Vergessene beschrieben werden, die aufgrund ihrer Frustratio­nen und auch wegen ihrer Tölpelhaftigkeiten Faschisten wählen, aber eigentlich nicht wissen, was sie tun. So als wären sie nicht geschäftsfähig.

Daran ist schon einmal bemerkenswert, dass dieselben Leute, die die Herablassung gegenüber den „einfachen Leuten“ berechtigterweise anprangern, sie oft schon im nächsten Satz als einfältige Kleinkinder zeichnen, die nicht checken, dass sie Faschos wählen. Mal soll man „Sorgen“ ernst nehmen, aber die Handlungen der Menschen werden nicht ernst genommen. Mir scheint ja, das ist die eigentliche Verachtung der Arbeiterklasse und zugleich eine Verniedlichung des Faschismus.

Wer Leute wie Björn Höcke oder in Österreich Herbert Kickl wählt, wer Leute wählt, die von „wohltemperierten Grausamkeiten“ schwadronieren, und wer bei jeder bösartigen verbalen Entgleisung und Gewaltrhetorik in ekstatischen Jubel ausbricht, der will das, was er kriegt. Wer Rechtsextremisten wählt, ist ein Rechtsextremist und in der Regel kein besachwalteter Depp.

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Geboren 1966, lebt und arbeitet in Wien. Journalist, Sachbuchautor, Ausstellungskurator, Theatermacher, Universaldilettant. taz-Kolumnist am Wochenende ("Der rote Faden"), als loser Autor der taz schon irgendwie ein Urgestein. Schreibt seit 1992 immer wieder für das Blatt. Buchveröffentlichungen wie "Genial dagegen", "Marx für Eilige" usw. Jüngste Veröffentlichungen: "Liebe in Zeiten des Kapitalismus" (2018) und zuletzt "Herrschaft der Niedertracht" (2019). Österreichischer Staatspreis für Kulturpublizistik 2009, Preis der John Maynard Keynes Gesellschaft für Wirtschaftspublizistik 2019.

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