„Überlandschreiberinnen“: Erinnern an die Gewalt des NSU
Kosmonaut Sigmund Jähn ist in seinem Geburtsort in Sachsen omnipräsent, aber über das Zuhause des NSU-Trios wächst Gras. Wie erinnert man an Terror?
Schon auf dem Ortseingangsschild grüßt ein Maskottchen im Astronautenanzug, die Bäckerei mit Ausschank nennt sich Space-Café, und einen Steinwurf von der Ausstellung entfernt schickt der „Weltraumbahnhof 1875“ seine Pensions- und Cafégäste im Jules-Verne-Stil auf eine retrofuturistische Zeitreise.
Die Museumsdame überlegt, bevor sie antwortet. „Ach, in meinem Alter“, sagt sie. Was ich aber sehe, ist das Leuchten in ihren Augen. Sie würde schon gern einmal ins Unbekannte ziehen, denke ich, dorthin, wo auf den mittelalterlichen Karten die Drachen saßen. Hic sunt dracones. Hier sind Drachen.
Im 35 Kilometer entfernten Zwickau ist dagegen etwas von der Karte verschwunden: Die Adresse Frühlingsstraße 26, im Ortsteil Weißenborn, wo die Rechtsterroristen des Nationalsozialistischen Untergrunds Beate Zschäpe, Uwe Böhnhardt und Uwe Mundlos ein nahezu bürgerlich anmutendes Leben lebten, zeigt Google Maps nicht mehr an. Auch sonst erinnert an diesem Ort nichts an den NSU. Wo das Haus stand, wachsen Gras und Gebüsch.
Eine Frau mit schwarzgefärbten Locken
Ich erinnere mich, dass ich mich nach der Selbstenttarnung des Trios im Herbst 2011 vom Bild der Beate Zschäpe kaum abwenden konnte. Nicht nur, weil sie so alt ist wie ich und wie ich aus Thüringen stammt. Es gibt eine Aufnahme von ihr, auf der sie sich mit beiden Händen die schwarzgefärbten Locken im Nacken zusammenstreicht, und alles an ihr: der Blick, die Haare, die Geste erinnert mich an mein eigenes jugendliches Ich der 1990er Jahre.
ist Schriftstellerin und lebt in Leipzig. Als eine von drei „Überlandschreiberinnen“ dokumentiert sie bis Ende August an dieser Stelle im Wechsel mit Barbara Thériault und Manja Präkels ihre Reisen durch Ostdeutschland – ein Projekt der Universität Leipzig, finanziert von der VW Stiftung. Die Texte sind Teil unserer Berichterstattung zu den Wahlen 2024 in Brandenburg, Sachsen und Thüringen.
Bist du links oder rechts?, war damals eine häufig gestellte Frage an uns; als ich ins Herz der Leipziger autonomen Szene nach Leipzig-Connewitz zog, entschied sich Zschäpe für den Nationalsozialismus, dessen Verbrechen des Holocaust geschichtlich präzedenzlos ist.
Es ist der menschliche Abgrund, der immer wieder neu kartiert werden muss, und die Stadt Zwickau entschied sich, dafür das Haus in der Frühlingsstraße abzureißen und Gras wachsen zu lassen. Man wolle keine Pilgerstätte für Neonazis schaffen, so die Begründung. Wären nicht verschiedene zivilgesellschaftliche Akteur:innen, wüchse das Gras nicht nur auf dem Gelände des ehemaligen Wohnhauses, sondern auch auf dem Gelände der Erinnerung.
Einer dieser Akteure ist Jörg Banitz. Für viele ist er Bani. Der Sozialarbeiter arbeitet seit 2019 am Soziokulturellen Zentrum Altes Gasometer in Zwickau mit Kindern und Jugendlichen. Die Bildungs- und Jugendarbeit begleitet ihn aber schon seit seiner Jugend, zunächst ehrenamtlich, später nach seinem Sozialpädagogik-Studium hauptamtlich. Nach seiner ersten Ausbildung als Maschinist in der Uranaufbereitung bei der SDAG Wismut war er zunächst in oppositionellen Kirchenkreisen und Umweltgruppen aktiv.
Offene Jugendarbeit bedeutete damals, am Beispiel konkreter Themen wie dem Nato-Doppelbeschluss oder dem Kalten Krieg ein Geschichtsverständnis zu entwickeln, das im Kontrast zum DDR-Duktus stand. Mit einem rechten Meinungsbild sah er sich zum ersten Mal noch zu DDR-Zeiten konfrontiert, als in der Ausstellung „Gesichter des Krieges“, die in der Zwickauer Marienkirche über das Leid des Ersten Weltkriegs erzählte, immer wieder Stimmen laut wurden, die den Krieg und die kriegerische Männlichkeit feierten.
„Wir dachten, die Baseballschlägerjahre sind vorbei“
In den 1990er Jahren habe dieses Männlichkeitsbild den Boden für Neonazistrukturen und die Baseballschlägerjahre bereitet. Die Selbstenttarnung des NSU im Jahr 2011 hat Bani dennoch kalt erwischt. „Selbst wir, die wir uns mit Rechtsextremismus beschäftigten, dachten, die Baseballschlägerjahre seien vorbei. Die Zivilgesellschaft hat sich einlullen lassen“, sagt er rückblickend.
Ich frage Bani, ob der NSU seine Bildungsarbeit verändert hat. Ja, sagt er. Noch genauer als zuvor achte er jetzt auf die Fakten- und Quellenlage. Er will nichts mehr übersehen. Was das bedeutet, vermittelt ein Workshop zum Thema NSU, den er gemeinsam mit Ethiklehrerin Franziska Laube für Schüler:innen der 11. Klasse des Clara-Wieck-Gymnasiums gibt. Bereits am ersten Workshop-Tag erfahren die Jugendlichen jede Menge Details zum NSU-Komplex: über die Opfer, das Tätertrio, das Unterstützernetzwerk – vor allem in Zwickau, die Entwicklung der rechtsextremistischen Szene seit den 1990er Jahren, die NSU-Ermittlungen und die Rolle der Verfassungsschutzämter.
In ihrem Vortrag achten die beiden sehr darauf, herauszustellen, was als gesichertes Wissen gilt, weil es dokumentiert ist, was nach der Zusammenschau der Quellen naheliegt und was nur vermutet werden kann. Ihnen ist wichtig, sich mit dem Leid der Opfer auseinanderzusetzen, sagt Franziska Laube, und dennoch wolle sie auch die Täterorte nicht aussparen: „Man darf das nicht einfach so mit der Haltung abtun, na ja, dort wohnen jetzt eben andere Leute.“
Die Teilnehmer:innen ihres Workshops waren zum Zeitpunkt der NSU-Selbstenttarnung vier oder fünf Jahre alt. Einer von ihnen, Felix, erzählt, dass er vom NSU zwar schon gehört hat, die Geschichte aber nicht in ihrer Komplexität kennt.
Überall NS-Schriftzüge
Für die Jugendlichen bietet der Workshop die Möglichkeit der Erstkartierung dieses Teils der jüngeren Stadtgeschichte. Dass die Baseballschlägerjahre wiederkehren könnten, spürt er aber schon: „Man sieht überall NS-Schriftzüge, und in Hartenstein gibt es mit der Hartensteiner Jugend als Anspielung auf NS-Jugend ein neues Spraymotiv“, erzählt er. „Das wird immer präsenter.“ An den folgenden zwei Tagen werden sich er und seine Mitstreiter:innen mit dem Quellenmaterial auseinandersetzen und Antworten auf ganz eigene Fragen finden.
Auf die Frage: Busfahrer oder Raumfahrer? antwortet Franziska Laube: Busfahrerin, weil der Beruf in sozialer Hinsicht nah an dem der Lehrerin ist. Bani und Felix entscheiden sich für Raumfahrer. Felix würde sich gern auf eine Ausschreibung der Europäischen Raumfahrtagentur bewerben, um unerforschte Gebiete zu bereisen.
Und vielleicht sitzen die Drachen ja gar nicht auf unbekanntem Terrain, sondern vielmehr dort, wo das Gras des Verdrängens, des Ausweichens, des Ablenkens wächst. Zum Beispiel auf dem Rasen in der Zwickauer Frühlingsstraße 26, wo einst das Haus stand, in dem drei Rechtsterroristen wohnten und ihre mörderischen Ausflüge planten. Hic sunt dracones.
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