Klimawandel und Tourismus: Die Alpen verlieren ihren Kitt

Extremwetter, Gletscherschwund, schmelzender Permafrost – Europas Zentralgebirge erwärmt sich enorm. Das macht auch das Bergsteigen immer unsicherer.

In 30 Jahren könnten die Alpen schon eisfrei sein Foto: Daniel Reiter/Mauritius

ZUGSPITZE |taz | Es ist der höchste Schacht in Deutschland: Vor fast einhundert Jahren errichtet, fuhren hier auf etwa 2.800 Höhenmetern einst Skifahrer von der österreichischen Zugspitzbahn unter einem Felssattel hindurch auf die deutsche Seite. Knapp 800 Meter ist die Röhre lang, an ihrem Eingang warnt heute ein Schild: „Stollen wegen Frostschäden teilweise schlecht begehbar.“ Aber der Schacht wird ohnehin nur noch zu Forschungszwecken betreten: Wissenschaftler der Technischen Universität (TU) München untersuchen hier den Permafrost.

Wenn die Erde wegen Temperaturen, die nicht über null Grad steigen, niemals auftaut, spricht man von Permafrost. Auf rund 23 Millionen Quadratkilometern, vor allem in Alaska, Nordkanada und Sibirien, aber auch in den Hochgebirgen gibt es ihn. „Alle Spalten und Risse in diesem Tunnel sind mit gefrorenem Wasser gefüllt“, erklärt Michael Krautblatter, Geologieprofessor an der TU München. „Wie Kitt hält dieser Permafrost den Berg zusammen.“ Eiszapfen sieht man im Stollen nirgends, denn die bilden sich ja aus gefrorenem Schmelzwasser. Noch aber ist hier nichts geschmolzen, das Wasser sieht aus wie eingelagertes Eis im Massiv der Zugspitze.

Allerdings zeigen die Messungen, dass auch dieses Eis immer wärmer wird. Im Jahr 2007 registrierten die Forscher im Kammstollen an der Zugspitze noch maximal minus 1,2 Grad Celsius, mittlerweile sind es nur noch maximal minus 0,7 Grad. „Wir nähern uns dem kritischen Punkt“, sagt Krautblatter. „In 10, spätestens 20 Jahren wird man hier voraussichtlich keinen Permafrost mehr besichtigen können.“ Das kann die Gebäude auf Deutschlands höchstem Berg gefährden: Wenn die dauergefrorenen, mit Wasser gefüllten Hohlräume auftauen, kann der Unterboden in Bewegung geraten, was schnell die Statik gefährdet. Risse wären die Folge, schlimmstenfalls die Zerstörung ganzer Häuser.

Bauwerke gibt es viele an der Zugspitze, heutzutage ist der Vorgipfel vollends zugebaut: An die Seilbahnstation auf der österreichischen Seite schließt sich das Panoramarestaurant an, dann folgt das alte Grenzhäusel zwischen Österreich und Deutschland und die höchste meteorologische Station Deutschlands. Danach thront das Münchner Haus, die 1897 eingeweihte Wanderhütte des Deutschen Alpenvereins, bevor sich ein Kolossalbau der deutschen Seilbahnstation anschließt: Restaurants, ein Museum, modernste sanitäre Anlagen gibt es hier. Bis zum etwas höher gelegenen goldenen Gipfelkreuz der Zugspitze sollte man allerdings schon „bergfest“ ausgerüstet sein: Auf die Höhe von 2.962 Metern geht es über einen Klettersteig, der bei schlechtem Wetter herausfordernd sein kann.

Gletscher schmelzen immer schneller

Markant in diesem Gesamtensemble ist der Turm der meteorologischen Station: Hier und im 300 Meter tiefer gelegenen Schneefernerhaus forscht der Atmosphärenphysiker Ralf Sussmann. „Wir untersuchen etwa die Konzentration von Methan in der Erdhülle“, sagt er. „Bis Mitte der 2000er Jahre war die relativ stabil.“ Methan ist 28-mal so treibhausintensiv wie Kohlendioxid, „in der zweiten Hälfte der 2000er Jahre stiegen die Messdaten plötzlich sehr stark an“, sagt Sussmann. Das hänge vor allem mit dem Run auf Frackinggas in den USA zusammen. Methan tritt bei der Förderung als unerwünschtes Begleitgas aus, das von dort binnen zwei Wochen von Winden zu uns transportiert wird.

Frackingerdgas: Das ist das, was die Bundesregierung gerade in großem Maße als Lösung für den Erdgasstopp aus Russland auserkoren hat, angeliefert in Flüssiggastankern in regierungseigenen Häfen an Nord- und Ostsee. Atmosphärenphysiker Sussmann sagt: „Derzeit hält die Menschheit durch ihre Treibhausfracht zusätzlich so viel Energie pro Sekunde auf der Erde wie 14 Atombomben der Hiroshimagröße verursacht haben.“ Logisch, dass dies nicht ohne Folgen bleibt, auch nicht für die Alpen.

Wenige hundert Meter unter Sussmanns Forschungshaus liegt der Schneeferner, Deutschlands größter Gletscher. Als kurz die Sonne durchbricht, sind große Schneehaufen zu sehen, die von Pistenraupen aufgetürmt wurden. Sie sollen dafür sorgen, dass die Sonnenenergie gar nicht erst bis zum gefrorenen Wasser vordringen kann. „Gletscherpflaster“ nennt die Wissenschaft solche Vorkehrungen. Eine andere Variante: riesige weiße Lastwagenplanen werden über das Eis gelegt, um es vor der Sonne zu schützen.

„Mit dieser Technologie sind wir am Ende“, sagt die österreichische Glaziologin Andrea Fischer. Der Klimawandel reiße Wunden in die Berge, die mit Pflastern nicht mehr zu lindern seien. „Das Tempo der Gletscherschmelze hat enorm zugenommen, wir stehen unmittelbar vor dem Kipppunkt“, sagt Fischer. Zuletzt seien binnen zweier Jahre 10 Prozent der Eismasse geschmolzen, „die Alpenregion erwärmt sich doppelt so schnell wie im globalen Durchschnitt“. Tatsächlich gibt es wissenschaftliche Studien, die belegen, dass die Alpen in etwa 30 Jahren größtenteils eisfrei sein werden.

Die Alpen werden unberechenbar

Das lässt sich auch auf Deutschlands höchstem Berg beobachten: Im Jahr 2018 betrug die Eisdicke am Schneeferner an der tiefsten Stelle noch etwa 10 Meter. Heute sind es keine 6 Meter mehr. Früher war der Schneeferner so groß wie 500 Fußballfelder, aber der Klimawandel hat diesen Eispanzer in kleine Einzelteile schrumpfen lassen. Weil zu wenig Eis übrig war, erkannte die Bayrische Akademie der Wissenschaften dem Südlichen Schneeferner 2022 den Gletscherstatus ab. Übrig geblieben ist der nördliche Teil, elf Fußballfelder groß und mit diesen „Pflastern“ versehen. „Spätestens 2030 wird die Zugspitze eisfrei sein“, sagt Glaziologin Fischer. Auch eisfreie Ostalpen seien nicht mehr allzu fern.

Es klingt lapidar: „eisfrei“. Bereits heute führt der fehlende Frost zu neuen Gefahren. „Am Montblanc-Massiv gibt es in Höhen um 3.000 Meter bereits Hunderte Felsstürze“, sagt Geologieprofessor Krautblatter. Mittlerweile verändere sich die hochalpine Landschaft so massiv, dass Bergführer bei gewissen Routen nicht mehr sicher sagen könnten, ob sie gefahrlos sind. Krautblatter: „Der Kitt der Berge löst sich auf, und das macht es so unberechenbar.“ Im Aletsch-Gebiet zum Beispiel sind bereits Wanderwege verlegt worden, weil Fels plötzlich instabil ist.

Todesfälle häufen sich

Tatsächlich häufen sich die Todesfälle unter den Bergsteigern. Herabstürzendes Gletschereis tötete in dieser Woche zwei Alpinisten am Mont Blanc in 4.100 Meter Höhe, Ende Juli begrub ein herabstürzender Felsen bei Oberstdorf einen Wanderer. Im Jahr 2022 sorgten sehr hohe Temperaturen dafür, dass am Berg Marmolata ein Eisblock vom Gletscher abriss und elf Bergsteiger in den Tod riss. 2023 sind mindestens 100.000 Kubikmeter Gestein vom Südgipfel des Fluchthorn-Massivs bei Galtür ins Tal gestürzt, was so viel ist, wie etwa 120.000 Lkw transportieren können. Wie durch ein Wunder kam niemand zu Schaden.

„Die Eigernordwand zu besteigen, endet heute tödlich“, sagt Tobias Hipp vom Deutschen Alpenverein DAV. Der Steinschlag sei wegen des tauenden Permafrostes derart unberechenbar geworden, dass kein Bergsteiger mehr das Risiko eingehen sollte. „Wo Gletscher abschmelzen, bleibt instabiles Moränengelände zurück“, sagt Hipp, angrenzende Flanken und Wände können durch den fehlenden Gegendruck des Gletschers kollabieren.

Kurzfristiger führe die Gletscherschmelze zusammen mit der geringeren Schneebedeckung häufig zu einer erhöhten Spaltensturzgefahr. Der DAV-Experte prognostiziert: „Hochtouren, wie wir sie bisher kannten, sterben aus.“

Der Hochvogel droht auseinanderzubrechen

Doch auch weiter unten steigen die Gefahren. „Es ist nicht die Frage ob, die Frage ist: Wann wird der Hochvogel auseinanderbrechen“, sagt Forscher Michael Krautblatter. Mit 2.592 Höhenmetern ist er einer der markantesten Gipfel der Allgäuer Alpen. Zumindest noch, der Hochvogel droht auseinanderzubrechen, bis zu 260.000 Kubikmeter Fels könnten ins Tal stürzen. „Von dem Hauptriss, der 3 bis 10 Zentimeter im Jahr aufgeht und schon 10 Meter tief ist, gehen inzwischen mehrere Seitenrisse ab“, erklärt der Geologieprofessor. Zunehmende Extremwetter vergrößern das Risiko. „Nach jedem Starkniederschlag verstärkt sich die Felsbewegung zwei, drei Tage lang“, so Krautblatter.

Vermutlich würde der Hochvogel auch ohne den Klimawandel irgendwann auseinanderbrechen. Aber die zunehmenden Starkregen beschleunigen diesen Prozess. Krautblatter: „In den vergangenen Jahren sind Anzahl und Intensität um den Faktor zwei bis drei gestiegen.“

Das setzt auch immer stärker der Infrastruktur zu: In Graubünden, Ostschweiz, hatte schwerer Starkregen Ende Juni drei Häuser und einen Teil der Autobahn A 13 weggerissen. Zuvor hatte die Schweizer Akademie der Wissenschaften mitgeteilt: Die Zeitspanne von Oktober 2022 bis September 2023 war die wärmste Zwölfmonatsperiode seit Beginn der Messungen im Jahr 1864 in der Schweiz.

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