Verbindungen gegen die Einsamkeit

Mit beeindruckender Offenheit schreiben 15 Au­to­r*in­nen über Sex. Es geht um die Bejahung von Begehren und Lust in dem Band „Wir kommen“, aber auch um Scham und Verletzungen

Ob ohne die Scham solche Orte über­flüssig wären? Erotik-Paradies am ehemaligen Ost-West Grenzübergang Berlin Foto: David Reed

Von Carola Ebeling

Die Versuchsanordnung für dieses Schreibexperiment ist ungewöhnlich: 18 Au­to­r*in­nen mehrerer Generationen – zwischen dreißig und achtzig Jahren alt – und unterschiedlicher Herkunft tauschen sich sechs Wochen lang in einem einzigen Onlinedokument über Begehren, Sex und Alter aus, und zwar anonym. Kei­ne*r konnte erkennen, wer was schreibt. Die Idee hatte das feministische Literaturkollektiv Liquid Center, bestehend aus den Autorinnen Julia Wolf, Verena Güntner und Elisabeth R. Hager.

15 der angefragten Kol­le­g*in­nen sagten zu. Dabei sind bekannte Namen wie Ulrike Draesner, Olga Grjasnowa oder Kim de l’Horizon, aber auch „Newcomer*innen“ wie Yade Yasemin Önder oder Simoné Goldschmidt-Lechner. Es geht um die Perspektive von Frauen, aber auch nonbinärer und nicht männlich gelesener Menschen.

Unter dem Titel „Wir kommen“ liegt das Ergebnis nun vor. 300 Manuskriptseiten haben die Herausgeberinnen von Liquid Center dafür bearbeitet, umsortiert, verdichtet, so Julia Wolf in einem Interview. Unter Kapitelüberschriften wie „Schlimme Finger“, „Beurteilungsmaschine“ oder „Unberührt I“ kristallisieren sich thematische Aspekte wie Pubertät, Masturbation, die Beurteilungen des Körpers von außen oder sexuelle Gewalt heraus. Die Form der Beiträge ist vielfältig. Es gibt poetische Prosa­miniaturen, Gedichte, experimentelle Worterkundungen, die dem Thema in dezidiert literarischer Gestaltung begegnen. Aber auch viele Passagen, die die eigenen Erfahrungen direkt mitteilen. Das Bedürfnis danach ist spürbar groß: „ich will einfach aussprechen, dem Schmerz /dem Ungelösten Raum verschaffen. Den er/es ja sonst kaum hat“, schreibt eine*r.

Die Schreibenden reagieren oft unmittelbar aufeinander, befragen sich, ergänzen einander. Lassen sich aber auch assoziativ anregen. Beeindruckend sind die zutage tretende Offenheit, die Intimität und damit einhergehende Verletzlichkeit, die so wohl nur in diesem Schutzraum der Anonymität möglich waren, der zugleich ein empathischer Resonanzraum ist.

Manche Texte betrachten die Kontinuität patriarchaler Verhältnisse, verknüpfen sie mit den persönlichen Erlebnissen. Es gibt die Bejahung von Sexualität, die hingebungsvolle Lust, die positiven Erfahrungen. Und doch überwiegt das Schmerzhafte. So oft ist von „Scham“ die Rede – und zwar, das ist trotz Anonymität erschließbar, in jedem Alter. Scham angesichts der (ersten) Menstruation; angesichts der eigenen Lust, die zu viel oder zu wenig ist; Scham über den ungenügenden jungen wie den „nicht mehr zumutbaren“ alternden oder alten Körper; angesichts der empfundenen geschlechtlichen Uneindeutigkeit; Scham nach erlittenen sexuellen Übergriffigkeiten bis hin zu Vergewaltigungen.

„Damals half mir das Schreien, heute hilft mir das Schreiben“, notiert ei­ne*r und fährt fort: „Doch erst wenn wir nicht mehr alleine schrei(b)en, allein mit unserer Scham, werden die Verhältnisse sich ändern.“ Hier wird eine Erkenntnis des Schreibexperiments berührt: Sichtbar wird in den vielen Einzelstimmen und bei aller Individualität doch das Gemeinsame vieler Erfahrungen. Darin wiederum liegt der politische Impuls des Buches.

Witz und Ernst, manchmal Trauer, liegen zuweilen dicht beieinander, auch wenn es um das Älterwerden geht. „Liebes Orakel, wann werde ich wieder Sex haben?“, fragt jemand, worauf als Reaktion „Gibt es denn ein Recht auf Sexualität?“ folgt und dann: „Es gibt kein Recht auf einen anderen Körper.“

Ob die Bezeichnung Kollektivroman – Betonung auf Roman – für die Form tatsächlich treffend ist, ist zweitrangig. Entscheidend ist der Reiz, welchen die auch sprachlich immer wieder originelle Lektüre bietet. Der Sog, der sich beim Lesen der aufeinanderfolgenden Beiträge einstellt, dürfte für viele Le­se­r*in­nen darin bestehen, dass sie in gewisser Weise eintreten können in den Resonanzraum, den die Schreibenden untereinander geschaffen haben. Dass auch sie eine Verbindung herstellen und damit das Alleinsein mit ihren Erfahrungen zu einem gewissen Grad aufheben können. Das ist ziemlich viel.

Mehrfach wird im Buch die Frage gestellt, wie mit einer Sprache, der die Gewalt, das Trennende, die Binarität eingeschrieben seien, überhaupt über das eigene Begehren zu sprechen sei. Das vielschichtige, differenzierte, viele genaue Beobachtungen aufblätternde literarisch-biografische Gespräch, das aus diesem Schreibexperiment erwachsen ist, ist selbst Teil einer (auch stärkenden) Antwort.

Liquid Center (Hg.): „Wir kommen. Kollektivroman“. DuMont, Köln 2024, 208 Seiten, 25 Euro