Geschädigte zu Klage gegen Bayer: „System gegen die Menschen“

Sie hatte Fehlgeburten und Schlaganfälle, nachdem sie Glyphosat ausgesetzt war. Muss Bayer dafür geradestehen? Anwältin Sabrina Ortiz hofft darauf.

Ein Kleinflugzeug versprüht Glyphosat über ein Feld bei Buenos Aires

Jedes Jahr werden 3 Millionen Liter Agrochemikalien auf den Feldern rund um Pergamino versprüht Foto: Diego Giudice/imago

taz: Frau Ortiz, die OECD muss über eine Beschwerde von Menschenrechtsgruppen gegen Bayer entscheiden. Es geht um den Einsatz von Agrochemikalien in Lateinamerika und ihre schädigenden Auswirkungen auf Mensch und Umwelt. In Argentinien geht es um Pergamino. Was passiert dort?

Sabrina Ortiz: Pergamino wird von der Landwirtschaft beherrscht. Es gibt mehr als 70 Unternehmen, die davon profitieren. Jedes Jahr werden über 3 Millionen Liter Agrochemikalien auf den Feldern rund um die Stadt versprüht. Es ist ein industrielles System, das gegen die Gesundheit der Menschen und gegen die Umwelt arbeitet, und Bayer ist ein wichtiger Teil davon.

taz: Von welchem System sprechen Sie?

Ortiz: Hier wird Gensoja angebaut. Die Pflanzen sind immun gegen diese Chemikalien, die von Bayer hergestellt werden, wie Glyphosat. Diese können deshalb in großen Mengen auf die Felder gesprüht werden. Alles, was keimt, stirbt ab, die Sojapflanzen überleben.

Im April 2024 hat eine internationale Gruppe von Menschenrechtsorganisationen Beschwerde gegen den Bayer-Konzern wegen Verstoßes gegen die OECD-Leitsätze für multinationale Unternehmen eingereicht. Der Konzern sei seiner Verantwortung für die Anwendung von Glyphosat und die Nutzung von Gensoja nicht nachgekommen.

Bis zum 24. Juli soll die deutsche OECD-Kontaktstelle entscheiden, ob die Beschwerde zulässig ist – und ob sie ein Mediationsverfahren zwischen Bayer und den Geschädigten einleitet.

Die Leitsätze der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) sehen vor, dass Unternehmen, die im Ausland aktiv sind, die Risiken bei der Anwendung ihrer Produkte analysieren und Schäden vorbeugen sollen. Bayer bekennt sich zur Einhaltung dieser Regeln. Der Konzern hat aber auch erklärt, der konkrete Fall in Argentinien sei ihm nicht bekannt und er passe nicht zum „Produkt- und Sicherheitsprofil von Glyphosat, welches eines der am besten untersuchten Pflanzenschutzmittel weltweit ist“. Zudem unterhalte man in Lateinamerika ein Schulungsprogramm für den sicheren Umgang mit Pestiziden, mit dem schon 300.000 Landwirte erreicht worden seien.

taz: Wie erklären Sie die positive Einstellung zu diesem System?

Ortiz: Es herrscht eine Wagenburgmentalität, nach der die Landwirtschaft nicht nur das Beste ist, was uns passieren konnte, sondern auch alles immer richtig macht. Jeder hält den Mund, aus Bequemlichkeit, aus Feigheit, aus Desinteresse. Manche wollen es einfach nicht wissen, selbst wenn sie oder ihre Kinder schon krank sind. Beim jährlichen Marathon laufen alle in Trikots, auf denen „Bayer“ steht, der Werbespruch des Konzerns lautet hier „Si es Bayer, es bueno“, also „Ist es Bayer, ist es gut“. Auch ich bin mit dieser Mentalität aufgewachsen.

taz: Wann haben Sie Ihre Einstellung verändert?

Ortiz: Es war ein schmerzhafter Weg. Meine erste Fehlgeburt hatte ich mit 27 Jahren. Ich weiß nicht, was an diesem Tag auf den Feldern versprüht wurde. Der Gestank war unerträglich und man konnte kaum atmen. Meine Nase, mein Mund, meine Kehle, alles begann zu brennen. In der folgenden Nacht habe ich mein Kind verloren. Im Krankenhaus wurde eine Vergiftung diagnostiziert. Aber der Arzt sagte, wenn er das als Grund für meine Fehlgeburt angibt, würden sie ihn umbringen. Deshalb steht auf der Bescheinigung nur Schwangerschaftsabbruch in Woche X. Meinen ersten Schlaganfall hatte ich mit 30, meinen zweiten mit 31. Beide Male begannen meine Arme zu zittern und die Sehkraft auf meinem rechten Auge verschwand. Letztes Jahr hatte ich eine zweite Fehlgeburt. Damals wohnten wir in einem Viertel, das an die umliegenden Felder grenzte.

taz: Wann kamen Sie darauf, dass das mit den versprühten Mitteln zusammenhängen könnte?

Ortiz: Bei einem Arztbesuch habe ich erwähnt, dass unser Haus ganz in der Nähe von Sojafeldern liegt, die ständig besprüht werden. 2018 haben wir alle eine Analyse machen lassen. Bei meiner Tochter Fiama wurde ein Wert von 9,20 Mikrogramm Glyphosat pro Liter Urin festgestellt. Mein Sohn Ciro hatte sogar 10,20 Mikrogramm Glyphosat. Bei mir waren es 4,10 Mikrogramm Glyphosat. Die Toleranzgrenze liegt bei 0,1 Mikrogramm pro Liter Urin. Als ich dann unsere Ergebnisse der Öffentlichkeit vorstellte, sagte die damalige Gesundheitssekretärin, es handele sich um „betrügerische Analysen“.

taz: Die Ärzte leugnen einen Zusammenhang?

Ortiz: Es gibt keinen einzigen medizinischen Toxikologen in Pergamino, und die Antwort der anderen Ärzte war immer dieselbe: „Nein, das hat nichts damit zu tun.“ Schließlich gingen wir zu einem Toxikologen im 170 Kilometer entfernten Pilar. Während der Pandemie mussten wir wieder zu der Kinderärztin in Pergamino gehen. Bei unserem zweiten Besuch sagte sie mir, dass sie uns nicht mehr behandeln könne. Sie konnte uns kein Attest ausstellen, weil sie mit der Person, die für die Kontrolle des Sprüheinsatzes in Pergamino zuständig war, sehr gut befreundet war.

taz: War das der Moment, in dem es Klick gemacht hat?

Ortiz: Wenn ich zurückblicke, sehe ich eine naive Mutter, die mit ihren Analyseergebnissen und Unterlagen verzweifelt nach Rat und Unterstützung suchte. Selbst eine Anwältin, die ich gut kannte, sagte, sie könne mir nicht helfen, weil sie auch landwirtschaftliche Unternehmen berate. Dabei war sie Vorsitzende des Instituts für Agrar- und Umweltrecht bei der Anwaltskammer von Pergamino und zuständig für die Ausbildung von Juristen in diesem Bereich. Als ich begriff, dass es weder Ärzte noch Anwälte gab, die mich unterstützen würden, sah ich nur einen Ausweg. Ich habe fünf Jahre Jura studiert und 2017 meinen Abschluss gemacht.

taz: Und als Rechtsanwältin gingen Sie dann in die Offensive?

Ortiz: Ja, ich habe eine Strafanzeige beim Bundesgericht in der Stadt San Nicolás eingereicht. Sie wurde nach nur einer Woche angenommen, das Gericht ordnete Untersuchungen an. Unter Polizeischutz wurden damals Boden- und Wasserproben in vier Stadtvierteln entnommen und untersucht. Das Leitungswasser in unserem Viertel enthielt 18 Agrogifte. In den Bodenproben wurden sogar 19 toxische Substanzen gefunden. 2018 wurde die erste einstweilige Verfügung erlassen, die das Sprühen auf den Feldern in einem Abstand von 600 Metern zu den Wohnvierteln verbietet.

taz: Inzwischen muss der Abstand größer sein.

Ortiz: Im September 2019 wurde eine Studie zur Gentoxizität in der Nachbarschaft durchgeführt, die zeigte, dass viele Kinder bereits genetische Schäden haben. Sie zeigte aber auch, dass diese Schäden ab einem Abstand von 1.950 Metern zu den Feldern deutlich abnahmen. In einer Petition forderten wir, den Radius für das Sprühverbot von 600 auf 1.950 Meter zu erweitern. Dies ging bis vor den Obersten Gerichtshof, der uns letztlich Recht gab.

Die 39jährige ist Juristin und Gesundheitspädagogin. Sie unterrichtet Pharmakologie an Schulen und Universitäten. Ortiz lebt in der 115.000-Einwohner*innen zählenden Stadt Pergamino in der Provinz Buenos Aires in der Pampa húmeda, die zum Kernland der argentinischen Landwirtschaft gehört.

taz: Haben die Nachbarn Ihnen gratuliert?

Ortiz: Nur ein paar. Vor meiner Haustür wurden Giftkanister aufgestellt, auf die Fassade meines Hauses wurde geschossen, mein Hund getötet. Im Supermarkt flüsterte jemand: „Ich schieß dir in den Rücken, damit du den Rest deines beschissenen Lebens im Rollstuhl verbringst.“ Mein Vater wurde mit seinem Auto fast von der Straße gedrängt. Später tauchten Videoaufnahmen auf, die zeigten, dass es das Auto des Nachbarn war, dem das Feld gegenüber gehört.

taz: Sie sind jetzt wieder schwanger?

Ortiz: Ja, aber ich bin sehr vorsichtig. Ich gehe regelmäßig ins Hospital Italiano in Buenos Aires. Nachdem ich meine Vorgeschichte erzählt hatte, wurde ich zur Abteilung für hochkomplexe Fälle geschickt und in die höchste Risikostufe eingestuft.

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