Misshandlung im Gefängnis: Der falsche Angeklagte

Ein Häftling wird in der Untersuchungshaft mutmaßlich von einem Wärter misshandelt. Doch die Staatsanwaltschaft klagt den Häftling an.

Menschen hinter vergitterten Fenstern

Unbeliebt unter Häftlingen: Hamburger Untersuchungshaftanstalt Foto: Daniel Bockwoldt/dpa

HAMBURG taz | Die Hamburger Untersuchungshaftanstalt hat unter den Häftlingen einen schlechten Ruf. Der Ton der Mitarbeitenden gegenüber den Inhaftierten ist unhöflich bis aggressiv, es herrscht ein unangenehmes Klima, viele Häftlinge fühlen sich gegängelt – so berichten es An­wäl­t*in­nen und Mit­ar­bei­te­r*in­nen anderer Einrichtungen. Wer aus einer anderen Hafteinrichtung dorthin muss, tut alles dafür, dass es nicht an einem Freitag passiert – denn dann läuft man Gefahr, das ganze Wochenende dort bleiben zu müssen. Der letzte Gefangenentransport zurück zu den anderen Anstalten fährt um 13 Uhr ab.

Auch Karvan P. wollte nicht an einem Freitag von seiner Hafteinrichtung in Ochsenzoll zur Untersuchungshaftanstalt am Holstenglacis gebracht werden, aber er musste. Für einen Arzttermin wurde er an einem Freitag im April 2023 zum Justizvollzugskrankenhaus in der U-Haft gebracht. Es kam schlimmer als befürchtet: P. geriet mit einem Wärter aneinander, es gab einen verbalen Schlagabtausch, Schläge und Tritte, am Ende hatte P. Hämatome am Oberkörper und in der Leistengegend.

P. wurde in einen besonders gesicherten Haftraum gebracht, musste sich nackt ausziehen und das Wochenende dort ausharren, bis er am Montag zurück in seine Einrichtung konnte. „Er stand am Montagmorgen völlig aufgelöst bei mir im Büro und weinte“, sagt der Justizvollzugsbeamte.

Mitte Juni steht P. wegen des Vorfalls vor Gericht – als Angeklagter, nicht als Geschädigter. Die Staatsanwaltschaft wirft ihm tätlichen Angriff, Widerstand gegen Vollstreckungsbeamte und Körperverletzung vor. Dem Wärter wird nichts vorgeworfen, er ist lediglich als Zeuge geladen.

Die Staatsanwaltschaft habe einseitig ermittelt

„Dieses Verfahren muss sofort eingestellt werden“, fordert P.s Anwalt, Matthias Wisbar. „Es liegen grobe Rechtsverstöße vor.“ Die Staatsanwaltschaft habe sich bei ihren Ermittlungen nicht dafür interessiert, was P. zu dem Vorfall zu Protokoll gegeben habe. Sie habe einseitig ermittelt und gegen das Legalitätsprinzip verstoßen. Das Legalitätsprinzip besagt, dass Strafverfolgungsbehörden tätig werden müssen, wenn sie einen Anfangsverdacht für eine Straftat sehen.

In diesem Fall, so Wisbar, hätten die Hämatome sowie der Bericht von P. gegenüber seiner Haftanstalt Hinweise für einen Anfangsverdacht geliefert. „Die Staatsanwaltschaft hätte auf die Idee kommen müssen, dass es eine Straftat ist, wenn ein Wärter einen Häftling misshandelt“, sagt Wisbar.

„Sie haben in vielen Punkten Recht“, gibt die Richterin beim Prozessauftakt zu und räumt Versäumnisse ein. Und nun? Verfahren einstellen? Dazu wäre sie bereit, gibt sie zu erkennen. Aber die Staatsanwaltschaft nicht.

Also verhandelt das Gericht, ein neuer Termin wird angesetzt, Zeu­g*in­nen werden vernommen. Die Staatsanwaltschaft soll parallel das Ermittlungsverfahren gegen den Wärter einleiten. Der Wärter selbst, Christoph O., sagt aus, sich an nichts mehr erinnern zu können. In dem Bericht, den er nach dem Vorfall verfasst hat, hatte er ausgeführt, bei der Essensausgabe mit P. aneinandergeraten zu sein.

P. habe Klopapier in Haftraum verteilt. O. habe ihn aufgefordert, dieses aufzuräumen. Daraufhin habe P. ihn angegriffen, geschlagen und getreten. O.s Kollegin betätigte den Alarmknopf, mehrere Wärter kamen und fixierten P. auf dem Boden. An all das habe O. aber keine Erinnerungen mehr. O.s Kollegin bestätigt O.s Geschichte, kann aber ebenfalls keine Details nennen.

P. selbst hatte in einem Bericht, der der Gerichtsakte beiliegt, die Ereignisse folgendermaßen geschildert: „Ich kam in der U-Haft in eine Zelle und wartete auf den Arzttermin. Niemand sagte mir, wann der stattfinden würde.“ Zwei Mal habe er über die Gegensprechanlage Kontakt mit den Be­am­t*in­nen aufgenommen, um Auskunft zu erhalten. Ein Beamter sei gekommen und habe harsch gefragt, warum er den Notknopf gedrückt habe. Er sei sehr respektlos gewesen und habe P. nicht zugehört. Eine Weile später habe der Arzttermin stattgefunden. P. habe sich auf die Liege gelegt um zu dösen, bis der Gefangenentransport ihn mit zurücknähme – allerdings nicht, ohne vorher Toilettenpapier auf die Liege zu legen, weil diese, wie der ganze Raum, sehr verdreckt gewesen sei.

Die sozialtherapeutische Anstalt glaubt P.

Als zwei Be­am­t*in­nen ihm Mittagessen angeboten hätten, habe er abgelehnt. Der aggressive Beamte von vorher habe gesagt, er solle das Papier wegräumen. Als P. aufgestanden sei, habe der Beamte ihn geschubst, als P. schützend seine Arme vor sich gehalten habe, habe O. ihn geschlagen. „Ich schrie um Hilfe, es kam eine andere Beamtin und hielt meine Beine fest. Ich hatte große Angst und dachte, ich muss sterben“, sagt P.

Am zweiten Verhandlungstag sagt eine Abteilungsleiterin der sozialtherapeutischen Anstalt aus, in der P. inhaftiert war. „Als er aus der U-Haft zurück kam, wirkte er sehr belastet. Er war instabil und weinte viel“, sagt sie dem Gericht. Die Mit­ar­bei­te­r*in­nen hätten sich große Sorgen gemacht. Sie hätten seine Verletzungen dokumentiert und bei der U-Haftanstalt gefragt, was los gewesen sei. „Es war sehr ungewöhnlich, dass wir keine Meldung von der U-Haftanstalt bekommen hatten“, sagt die Abteilungsleiterin. Erst nach und nach sei ihnen berichtet worden, dass P. angeblich ausgerastet sei. Die Abteilungsleiterin kenne P. hingegen als ruhigen und freundlichen Menschen, der anderen gegenüber nie aggressiv auftrete.

Karvan P., Häftling

„Ich schrie um Hilfe, es kam eine andere Beamtin und hielt meine Beine fest. Ich hatte große Angst und dachte, ich muss sterben“

Nach ihrer Aussage zweifelt auch die Staatsanwältin am Sinn des Verfahrens und plädiert auf Freispruch. P.s Verteidiger fasst die Verhandlung bis hierhin zusammen: „Wir wissen, dass P. in der U-Haft verletzt wurde, dass die Staatsanwaltschaft Kenntnis davon hatte und es sie nicht interessiert hat.“ Des Weiteren habe das Gericht einen Zeugen gesehen, der sich ein Jahr, nachdem er angeblich angegriffen wurde, nicht daran erinnern könne, eine Zeugin, die Quatsch erzähle – und das alles werde von der U-Haftanstaltsleitung gedeckt. „Und von all diesen Personen sitzt hier Herr P. als Angeklagter“, sagt Wisbar. „Das finde ich, gelinde gesagt, eine Sauerei.“ Mit Rechtsstaatlichkeit habe das Verfahren nichts zu tun.

Das letzte Wort gehört am Mittwoch Karvan P. „Im Iran habe ich viel Gewalt erlebt“, sagt er. „So etwas in Deutschland zu erleben, hätte ich in meinen schlimmsten Träumen nicht gedacht.“ Nach dem Vorfall sei es ihm sehr schlecht gegangen, er habe nächtelang nicht schlafen können. Doch er sei in Therapie und lerne, damit umzugehen. „Deshalb verzeihe ich den Beamten“, sagt P. „Ich möchte nur gerecht behandelt werden. Gerechtigkeit ist ein Bedürfnis der Menschheit.“

Die Richterin spricht P. frei. Der bedankt sich, verabschiedet sich von seinem Anwalt und wird von zwei Justizbeamten wieder in die Haft gebracht. Er hat noch ein paar Jahre abzusitzen.

Apropos Gerechtigkeit: Die Staatsanwaltschaft hat bislang kein Verfahren gegen den Wärter O. eingeleitet.

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