Queeres Leben in Thüringen: Endlich CSD in Sonneberg
In der thüringischen Stadt Sonneberg findet zum ersten Mal ein Christopher Street Day statt – ein wichtiges Zeichen für queere Menschen vor Ort.
W ir sitzen eigentlich in diesem Zoom-Call, um zusammen eine Party vorzubereiten. Aber als N. erzählt, wie er als queere Person auf offener Straße bespuckt wird, werden wir erst mal still. Die Planungen des ersten CSD im thüringischen Sonneberg fühlen sich eher nach Gefahreneinschätzung an als nach Feiervorfreude. Kriegen wir Live-Musik hin, fragen wir Auswärtigen? Er habe Angst, dass die Technik als Angriff auf den CSD gezielt geklaut werde, entgegnet N.
Genau ein Jahr ist es her, dass die AfD in Sonneberg das erste Mal überhaupt eine Landratswahl gewann und damit an die Spitze der kommunalen Verwaltung befördert wurde. Eine Zäsur. Und ich? Ich reimte im Zug von Köln nach Mainz „Dürüm und Ayran“ auf „Thüringer Kleinstadt“. Wie banal. So banal, dass ich zusammen mit Bruneau innerhalb weniger Tage den Rap Track „CSD in Sonneberg“ aufnahm, der mit der Hookline „Es ist CSD in Sonneberg und die AfD empört“ versuchte, dem Schrecken, den die Wahl des AfD-Landrates mit sich brachte, etwas Positives entgegenzusetzen – einen musikalischen CSD in Sonneberg. Der Song ging viral.
Aber sind wir mal ehrlich: Was soll so ein Song überhaupt bringen? Und ist es wirklich sinnvoll, wenn zwei Wessis aus Mainz und Berlin nach Sonneberg fahren, um da in einem queeren Rapvideo herumzuhampeln? Der Landrat Robert Sesselmann ist enger Vertrauter von Faschist Höcke. Sesselmanns Lebensgefährtin ist mal eben eine offene Neonazi-Aktivistin, die keine Scheu hat, mit Hitler-Bildern und Hakenkreuzfahnen zu posieren. Die AfD zeigt hier nicht nur völlig offen ihr Gesicht, sie wird auch noch dafür gewählt. Und da soll jetzt ein queerer Raptrack helfen, in dem ich mit Croptop über den Sonneberger Rathausplatz rappe?
Der CSD in Sonneberg ist vielleicht der wichtigste Tag dieses Jahres
Dieser Text stammt aus der wochentaz. Unserer Wochenzeitung von links! In der wochentaz geht es jede Woche um die Welt, wie sie ist – und wie sie sein könnte. Eine linke Wochenzeitung mit Stimme, Haltung und dem besonderen taz-Blick auf die Welt. Jeden Samstag neu am Kiosk und natürlich im Abo.
Vielleicht nicht. Aber dafür nehmen die Sonneberger*innen es ja jetzt selbst in die Hand. Nach dem Video schreiben uns viele Menschen aus Sonneberg: ein über 70-jähriger schwuler Mann, junge Eltern, deren Kinder queer sind, oder eine Frau, die sich erst kürzlich outen konnte. Was alle Zuschriften gemein hatten, war die Freude darüber, dass sich andere dafür interessieren, was bei ihnen passiert und Sonneberg nicht abgeschrieben ist. Aber auch Sorgen.
Am 20. Juli ist also wirklich CSD in Sonneberg. Die Zahl rechtsextremer Gewalttaten hat sich im Landkreis binnen eines Jahres seit der Wahl des AfD-Politikers verfünffacht. N. und die anderen haben reale Angst vor Übergriffen und Gewalt beim CSD. Aber sie machen es trotzdem. Sie zeigen Präsenz, wo die Faschisten vermeintlich schon gewonnen haben.
Und es ist nicht nur Sonneberg. In vielen kleinen und mittelgroßen Städten im Osten finden zum ersten Mal oder erst seit wenigen Jahren CSDs statt. In Pirna, Zwickau oder Altenburg zu tanzen ist im Jahr 2024 wichtiger als bei den großen Partyparaden in Berlin oder Köln.
Vielleicht ist der CSD in Sonneberg also der wichtigste Tag dieses Jahres. Menschen engagieren sich gesellschaftlich dann, wenn sie das Gefühl haben, nicht alleine zu sein und einen Unterschied zu machen. Und sei es nur: einer anderen Person Zuversicht zu geben. Der CSD in Sonneberg ist ein Mittelfinger. Und bleibt auch eine Party. Er hätte nie gedacht, dass so was mal passiert, schrieb mir ein älterer schwuler Mann im letzten Jahr, dass jemand nach Sonneberg kommt und auf dem Marktplatz einen queeren Rapsong aufnimmt. Und wer hätte gedacht, dass in diesem Juli in Sonneberg im Croptop getanzt wird? Vielleicht bis vor Kurzem niemand. Aber wir werden tanzen.
Anmerkung der Redaktion
Sesselmanns Lebensgefährtin lässt uns wissen, dass sie seit 2019 nicht mehr in der rechten Szene aktiv sei. Das Bild mit dem Hitler-Bilder und der Hakenkreuzfahne sei von 2016.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Grundsatzpapier von Christian Lindner
Eine gefährliche Attacke
Nach Diphtherie-Fall in Berlin
Das Problem der „Anthroposophischen Medizin“
Felix Banaszak über das Linkssein
„Für solche plumpen Spiele fehlt mir die Langeweile“
Geschlechtsidentität im Gesetz
Esoterische Vorstellung
Jüdische Wähler in den USA
Zwischen Pech und Kamala
Alkoholpreise in Deutschland
Das Geschäft mit dem Tod