Langstreckenwaffen in Deutschland: Ungeteiltes Risiko
Die Konfrontation mit Russland darf durch offensive Rüstungsmaßnahmen der Nato nicht verschärft werden – nicht ohne einen stabilisierenden Dialog.
![Eine Rakete schießt auf einer Flammensäule in die Höhe Eine Rakete schießt auf einer Flammensäule in die Höhe](/picture/7120803/624/35813737-1.jpeg)
Der Start einer Tomahawk-Rakete aus einer US-Navy-Basis (Datum unbekannt) Foto: Department of Defense/Zuma Press/imago
Die amerikanisch-deutsche Erklärung zur Stationierung von neuen konventionellen Langstreckenwaffen (M6-Raketenabwehrsysteme, Tomahawk-Marschflugkörper und Hyperschallgleiter) erscheint auf den ersten Blick nachvollziehbar zu sein.
Die Bundesregierung hat die ab 2026 zunächst „episodisch“ und später dauerhaft vorgesehene Stationierung in bisherigen Äußerungen mit einer „Fähigkeitslücke“ begründet. Russland besitzt in der Tat ein bedrohlich großes und breit gefächertes Potenzial an Kurz- und Mittelstreckenraketen, einschließlich Hyperschallwaffen und Marschflugkörpern.
Eine Reihe dieser Waffen können sowohl mit konventionellen als auch mit atomaren Sprengköpfen eingesetzt werden. Die Nato-Staaten verfügen auf europäischem Boden bis auf luftgestützte Marschflugkörper über keine vergleichbaren Raketensysteme. Washington hat diese Raketenstationierung in Deutschland bereits seit Jahren geplant und 2021 eine Taskforce für Führung und Einsatz dieser Systeme in Wiesbaden aktiviert. Die Bundesregierung hat der Stationierung nunmehr offiziell zugestimmt. Die Tragweite dieser Entscheidung ist gravierend und erfordert eine umfassende Begründung, vor allem hinsichtlich der Implikationen für Deutschland.
Lage zwischen Nato und Russland wird sich verschärfen
Denn Russland wird aller Wahrscheinlichkeit nach als Reaktion eine noch größere Zahl seiner nuklearfähigen Mittelstreckenraketen in Kaliningrad und in Belarus stationieren, insbesondere unmittelbar gegenüber Polen und den baltischen Staaten, auch in Kaliningrad und in Belarus. Eine Verschärfung der Lage an der Konfrontationslinie zwischen der Nato und Russland wäre die Folge und wird gegebenenfalls zu weiteren Rüstungsschritten auf der westlichen Seite führen.
Warum wird die Stationierung aber nicht im Nato-Rahmen vorgenommen, wie dies im Sinne einer Risiko- und Lastenteilung etwa bei der nuklearen Teilhabe der Fall ist? Bisher ist nicht erkennbar, dass irgendein anderer Bündnispartner bereit ist, diese Waffensysteme auf seinem Territorium zu dislozieren und die damit verbundenen Risiken einzugehen. Deutschland wäre im Kriegsfall aufgrund seiner geografischen Lage und Funktion als zentrale Drehscheibe für Aufmarsch und Logistik zur Verteidigung der Nato-Ostflanke ohnehin bereits in erheblichem Maße durch russische Mittelstreckenraketen bedroht.
Darüber hinaus würden in einem Krieg an der Ostflanke die amerikanischen bodengebundenen Mittelstreckensysteme durch die russischen Streitkräfte mit allerhöchster Priorität aufgeklärt und bekämpft werden. Deutschland verfügt zudem auf viele Jahre hinaus über keinen nennenswerten Zivilschutz und ist gegen Raketenangriffe hoch verwundbar. Eine flächendeckende Raketenabwehr ist unrealistisch.
Im Gegensatz zur atomaren Nachrüstung der Nato in den frühen 1980er Jahren (Doppelbeschluss) ist die Stationierungsentscheidung nicht mit einem Rüstungskontrollvorschlag zur Verringerung des russischen Raketenpotenzials verknüpft worden. Dies mag zwar angesichts des russischen Angriffskriegs in der Ukraine schwierig erscheinen. Andererseits hat die Nato in der Gipfelerklärung von Washington ihre Bereitschaft zur Rüstungskontrolle und Abrüstung bekräftigt.
Allein die Option wirkt destabilisierend
Die gravierendsten Folgen der Raketenstationierung, insbesondere der Hyperschallwaffen in Deutschland, liegen in den Auswirkungen auf die künftige nuklearstrategische Stabilität zwischen den atomaren Supermächten USA und Russland. Von dieser Balance hängt auch die deutsche und europäische Sicherheit ab. Die USA könnten in der russischen Wahrnehmung aufgrund der Reichweite, Zielpräzision und eventuell bunkerbrechenden konventionellen Sprengkraft dieser neuen Waffensysteme von Deutschland aus strategische Atomwaffen, die in den westlichen Bezirken Russlands stationiert sind, mit kurzen Flugzeiten ausschalten.
Die USA würden solche Angriffe zwar nicht führen, weil dies in einen großen Atomkrieg zwischen beiden Mächten münden würde. Aber allein diese Angriffsoption wäre destabilisierend und gefährlich, weil Russland im permanenten Alarmzustand verharren würde und weil Fehlalarme im schlimmsten Fall zum Start von Atomraketen führen können. Überdies muss wohl davon ausgegangen werden, dass mit der Stationierung der Marschflugkörper und Hyperschallgleiter eine Verlängerung des 2026 auslaufenden New-Start-Vertrags mit Obergrenzen für die strategischen Atomwaffen beider Seiten unmöglich wird.
Die Bevölkerung wird so im instabilen Zustand prekärer Sicherheit verharren, heikler als im Kalten Krieg
Als Fazit kann festgehalten werden: Der Aufwuchs militärischer Kräfte zur Abschreckung und zur Verteidigung der Ostflanke der Nato ist angesichts der russischen Aggression unabdingbar. Zugleich darf die bereits vorhandene Konfrontation zwischen Russland und der Nato nicht noch durch offensive Rüstungsmaßnahmen ohne einen begleitenden stabilisierenden Dialog verschärft werden. Ob die angekündigte Stationierung von Mittelstreckenwaffen in Deutschland die deutsche Sicherheit tatsächlich stärkt, muss noch überzeugend begründet werden. Dies hängt letztlich von Annahmen über die psychologische Abschreckungswirkung auf die Machthaber im Kreml ab. Also von Annahmen, bei denen Fehleinschätzungen leicht möglich sind.
Es könnte sich als Trugschluss erweisen, unsere Sicherheit auf viele Jahre hinaus allein auf Abschreckung und Kriegstüchtigkeit zu stützen. Die Bevölkerung wird so im instabilen Zustand prekärer Sicherheit verharren, heikler als im Kalten Krieg. Frieden wird so zur Utopie. Wir haben uns im amerikanisch-deutschen Tandem Schritt für Schritt auf einen ungesicherten Pfad begeben, einen Pfad der irreversiblen Konfrontation mit Russland, ohne zu wissen, wo uns das am Ende hinführt und wie lange die Regierenden noch die Kontrolle über die weitere Konfrontation in der Hand behalten. Immer weiter ins Risiko zu gehen, ist auch politisch-moralisch fragwürdig.
Leser*innenkommentare
Marco Bünger
Ein kluger und ausgewogener Beitrag. Leider viel zu selten. Wir brauchen dringend eine Deeskalation, Frieden in der Ukraine und in Gaza, und ein Konzept für die gemeinsame Bewältigung der globalen Herausforderungen unserer Zeit. Waffen, Krieg, Aufrüstung, Politiker im Euro-Fighter (da hat Merz sich wohl ein Beispiel an Putin genommen), all das führt in die falsche Richtung. Ebenso der Glauben, dass die nächsten Jahre durch kriegerische Konflikte des "Westens" mit Russland und China geprägt werden. Es gibt eine Alternative! Leider verdient die Rüstungsindustrie dabei weniger, Kapital würde gerechter verteilt... Alles Dinge, an denen eine kleine, aber einflussreiche Gruppe in unserer Gesellschaft kein Interesse hat.
DieLottoFee
@Marco Bünger Ja, wir brauchen, was Sie schreiben, aber Sie tun so, als ob alle Akteur*innen das auch so wollten und nein, da ist nicht immer nur die böse Rüstungsindustrie des Westens schuld. Das schaffen die autoritären Regime auch ganz alleine, der Welt ihren machtlüsternen Stempel aufzudrücken. Ich vermisse in solchen Kommentaren immer die machtkritische Analyse antidemokratischer Akteur*innen und wie sich mit diesen ein Umgang finden lässt, der nicht bedeutet, duckmäuserisch in den eigenen Käfig zu laufen. Aggressor*innen müssen wir nicht aggressiv begegnen, aber entschieden und konsequent, wenn sie unseren Frieden und unsere Sicherheit gefährden.Entschieden und konsequent lässt sich leider aber nur handeln, wenn wir entsprechend gerüstet sind. Sie würden ja auch nicht unbewaffnet in einen Löwenkäfig gehen.