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Hamburgs neues Verfahren für BürgerräteMehr Demokratie durch Zufall

Die rot-grüne Koalition in Hamburg will, dass zufällig gewählte Bürger bei Entscheidungen mitreden können. Der Verein Mehr Demokratie findet das gut.

Hier durften die Bürger informell mitreden: Straße in Hamburgs neuem Stadtviertel Mitte Altona Foto: Christian Charisius/dpa

Hamburg taz | Nach dem Zufallsprinzip ausgewählte Bürger sollen an politischen Entscheidungen in Hamburg beteiligt werden. Mit einem am Mittwoch in die Bürgerschaft eingebrachten Gesetzentwurf wollen SPD und Grüne sicherstellen, dass Behörden hierfür aufs Melderegister zurückgreifen können, ohne gegen den Datenschutz zu verstoßen.

Der Verein Mehr Demokratie begrüßt die Gesetzesinitiative: „Ziel des Auslosens ist es, eine repräsentative Gruppe von Bürgern und Bürgerinnen einzubeziehen und auch Menschen, die sonst kaum Beteiligungsverfahren nutzen oder die man mit Veröffentlichungen über solche Verfahren nicht erreicht“, sagt Helena Peltonen-Gassmann vom Hamburger Landesverband.

Das von den Koalitionsfraktionen vorgeschlagene Verfahren sieht vor, aus dem Melderegister projekt- oder themenbezogen zufällig Leute zu ziehen und sie in einem ersten Schritt zu fragen, ob sie bereit wären, an einem Beteiligungsprozess teilzunehmen. Unter denjenigen, die zugesagt haben, wird dann in einem weiteren Losverfahren der endgültige Teilnehmerkreis bestimmt, der ja nicht zu groß werden soll.

Zweck des Verfahrens sei es, „Interessen und Lösungsansätze aus der Bevölkerung zu einem konkreten Thema oder Vorhaben zu ermitteln“, heißt es in der Vorlage. Das Ergebnis wird in einem Bericht festgehalten und ist nicht verbindlich. In Gang gesetzt werden kann es nur durch Behörden – das Hamburger Pendant zu Ministerien – und die Verwaltungen der sieben Bezirke.

Es geht darum, Menschen einzubeziehen, die sich sonst kaum beteiligen – und nicht nur die immer gleichen Engagierten

Bürgerbeteiligung – abgesehen von der im Planungsrecht vorgeschriebenen formellen Beteiligung – gibt es auch jetzt schon in Hamburg in verschiedensten Formen. Das gilt für mehrjährige, vielstufige Prozesse wie zum geplanten Neubaugebiet Oberbillwerder oder zur bereits realisierten Mitte Altona, aber auch für das Hamburger Klimaschutzgesetz, für das der Senat online fast 2.600 Vorschläge einsammelte.

Zukunftswerkstätten, runde Tische, Diskussionsforen, Umfragen, „Tür-und-Angel-Gespräche“ sind in Hamburg etabliert. Wie eine Analyse des Bezirksamtes Eimsbüttel ergab, kranken alle diese Verfahren jedoch daran, dass sie nur begrenzt repräsentativ sind.

„Um zu guten und breit akzeptierten Maßnahmen zu kommen, müssen wir den Menschen nicht bloß zuhören, sondern sie aktiv beteiligen“, sagt die Grünen-Bürgerschaftsabgeordnete Lisa Kern. Dabei bestehe das Risiko, dass immer ähnliche Bevölkerungsgruppen mitredeten, während andere, die von konkreten Entscheidungen mitunter stärker betroffen seien, gar nicht erst erreicht würden. „Zudem gibt es Teile der Gesellschaft, die generell wenig zu Wort kommen“, sagt Kern.

Die Stimmen solcher Menschen einzufangen, sei in einer zunehmend vielfältigen Bevölkerung wichtig, um viele Blickwinkel bei Plänen und Entscheidungen einzubeziehen, sagt Helena Peltonen-Gassmann von Mehr Demokratie. Darüber hinaus lieferten solche Verfahren die Grundlage dafür, dass die Teilnehmer aus nächster Nähe erführen, wie Pläne und Entscheidungen zustande kommen, und auch, wie komplex das sein könne.

Der Antrag von Rot-Grün würdigt aber auch die Rolle engagierter Einwohner. Deshalb sei eine Kombination von offenen und Zufallsauswahlverfahren anzustreben.

Mehr Demokratie habe mit der Zivilgesellschaft mehrere Jahre darauf hingearbeitet, Bürgerräte zu ermöglichen, sagt Peltonen-Gassmann. Mit der Vorlage konkretisiere Rot-Grün die seit 2020 von der Hamburgischen Verfassung aufgegebene Bürgernähe. „Als eine abschließende Definition von Bürgernähe kann dieses Gesetz aber auch nicht gelten“, warnt Mehr Demokratie.

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5 Kommentare

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  • WAs hat eigentlich der bundesweite Bürgerrat für Ernährung konkret erreicht?

  • Bürgerräte sind für Hamburg überflüssig. Es gibt in der Stadt schon genügend analoge und digitale Beteiligungsformate. Außerdem wählt man auch seine Vertretung für die Bürgerschaft und den Bezirken alle 5 Jahre. Vielleicht sollten die gewählten Vertreter mehr Zeit für Bürgersprechstunden einplanen.



    Außerdem bekommt man die Organisation der Bürgerräte nicht um sonst.



    Ps. In den "Neuen Bundesländer " wo die Politik in der Fläche nicht so vertreten ist , machen Bürgerräte sinn

  • Das ist klasse ! Zumindest vom Grundgedanken her.

    Die Amtsträger haben keinen Grund mehr sich an die Wähler ranzuwanzen.

    Die Lobbiisten haben keine Ziele mehr für ihre Bestechnungsgelder.

    Und den listenaufstellenden Parteien bleibt es erspart jene Kandidaten nach vorne zu puschen von denen man möglichst viele Kompromate im Keller hat - als Not-Aus-Schalter gewissermaßen.

    Und eines ist sicher: Der Zufall bietet mehr Chancen auf sachgerechte Besetzung der Posten als es die durchkorumpierten Parteien jemals vermöchten !

    • @Bolzkopf:

      Ah, ja. Ok.

  • Damit Bürgerbeteiligung etwas bringt, muss sie für die Politik auch verbindlich sein! Die Scheinbeteiligungsverfahren um Neue Mitte Altona, Diebsteich etc verärgern die Bürger nur und bringen sie zum Rückzug. Denn kein Wunsch der Bürger wurde je umgesetzt. In Diebsteich waren die Bürger mehrheitlich gegen eine Mehrzweckhalle sondern wollten kleine Clubs und Ateliers auf dem Thyssen Krupp Gelände. Was bekamen sie? Eine Mehrzweckhalle. Bei Projekten wie Sternbrücke oder Bahnhofsverlegung ist von vornherein klar, dass die Mehrheit der Altonaer dagegen ist. Trotzdem werden sie durchgepowert. Die Neue Mitte Altona ist genauso geworden, wie die Bürger es in der Bürgerbeteiligung auf keinen Fall wollten. Rotgrün schmückt sich gern mit Bürgerbeteiligung – aber das ist leider alles. Deshalb brauchen solche Formate Verbindlichkeit.