Vor dem Halbfinale gegen England: Wucht statt Geschick
Das Team der Niederlande bleibt ein Rätsel. Vorne fehlt bisweilen die Kreativität, hinten die Stabilität – und am Ende kommt Wout Weghorst.
Auch er weiß, was alle wissen: „Sie haben eine gute Mannschaft.“ Und auch er rechnet, womit alle rechnen, mit einem defensiven Auftritt der Mannschaft von Gareth Southgate am Mittwochabend in Dortmund.
Die Offensive der Niederlande wird also gefordert sein. Ob sie der Aufgabe gewachsen ist? Im Viertelfinale gegen die defensiv außerordentlich diszipliniert spielende Mannschaft aus der Türkei ist den Niederländern jedenfalls lange wenig eingefallen. Brav spielten sie den Ball um die aus einer Fünfer- und einer Viererriege gebildete Verteidigung herum, meist ohne ein Lücke zu finden.
Eine gute Stunde war gespielt, da landete der Ball bei dieser ideenlosen Übung bei Torhüter Bart Verbruggen kurz hinter dem Mittelkreis. Der schaute sich nach einer Anspielstation um. Ging mit dem Ball einen Meter zurück, schaute sich wieder um, ging noch einmal ein kleines Stück nach hinten, schaute nach seinen Mitspielern, die ihm wieder nichts anboten. Und so schob er den Ball an einen in der Nähe stehenden Spieler weiter, dem dann auch nichts Besonderes einfiel. Es war eine Szene mit viel Symbolkraft. Die Niederländer tun sich schwer, Kreativität zu entwickeln.
Dabei hatten sie nach dem 3:0 im Achtelfinale gegen Rumänien schon gedacht, sie müssten sich um ihr Angriffsspiel keine Sorgen machen. Tijjani Reijnders machte über außen das Spiel und war endlich der Antreiber, der den Niederlanden gefehlt hatte. Gegen die Türkei war er dann eher antriebslos, und weil sein Kollege Xavi Simons, den man bei RB Leipzig schon oft sehr gut gesehen hat, eine schlechte Entscheidung nach der anderen traf, war unschwer zu erkennen, dass den Niederlanden Kreativität fehlt. Die hat einen Namen: Frenkie de Jong. Sein verletzungsbedingtes Fehlen wiegt schwer.
Turnierspieler Gakpo
Immerhin können sie sich darauf verlassen, dass Cody Gakpo immer dann besonders gut spielt, wenn er das orange Trikot der Nationalmannschaft trägt. Er steht für das typisch niederländische Außenstürmersystem, das früher über alle Maße gefeiert wurde. Aber er steht eben meist ziemlich alleine da.
Und so bleibt Trainer Ronald Koeman oft nichts anderes übrig, als mit Wout Weghorst einen Stürmer spielen zu lassen, der eher mit Wucht statt Geschick agiert. Ob dessen brachiale Herangehensweisel, die der TSG Hoffenheim in der abgelaufenen Saison in der Bundesliga auch nur sieben Tore beschert hat, ausreicht, um die englische Innenverteidigung zu überwinden, wird sich zeigen.
Und hinten? Da herrscht auch eine gewisse Ratlosigkeit. Nach dem 0:0 gegen Frankreich in der Vorrunde war die Defensive noch über den grünen Klee gelobt worden. Bei den Spielen gegen Österreich und im Viertelfinale gegen die Türkei war die Abwehr eher ein amorphes Gebilde. Der türkische Stürmer Barış Yılmaz hat Außenverteidiger Nathan Aké regelrecht zermürbt, sodass der in der 72. Minute gar ausgewechselt werden musste. Und auch Virgil van Dijk, der König der Innenverteidiger, der unumstrittene Chef de Mission, wenn die Niederlande auf dem Platz stehen, wurde von Yılmaz bisweilen derart bedrängt, dass ihm nichts anderes übrigblieb, als den Ball ganz schnöde ins Seitenaus zu klären.
Wenn sich also – wie es der im Spiel gegen die Türkei eingewechselte Micky van de Ven erwartet – tatsächlich ein „intensives Spiel“ mit Premier-League-Charakter entwickeln sollte, könnte es durchaus das ein oder andere Mal chaotisch werden vor dem Tor von Verbruggen, der mit einer irrwitzigen Parade in der Nachspielzeit dafür gesorgt hat, dass sich die Niederlande mit 2:1 durchgesetzt haben und im Halbfinale stehen. Soll es mit dem Finaleinzug klappen, muss wirklich eintreten, was sich Cody Gakpo für das Spiel gegen England wünscht. Der hofft, „dass wir zeigen können, wie alles zusammenpasst, und wir unser bestes Spiel auf den Platz bringen“.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Vorgezogene Bundestagswahl
Ist Scholz noch der richtige Kandidat?
113 Erstunterzeichnende
Abgeordnete reichen AfD-Verbotsantrag im Bundestag ein
USA
Effizienter sparen mit Elon Musk
Bürgergeld-Empfänger:innen erzählen
„Die Selbstzweifel sind gewachsen“
Ein-Euro-Jobs als Druckmittel
Die Zwangsarbeit kehrt zurück
Aus dem Leben eines Flaschensammlers
„Sie nehmen mich wahr als Müll“