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orte des wissensWider die Polarisierung

Die Universität Osnabrück hat einen neuen Sonderforschungsbereich ins Leben gerufen und provoziert gleich mit dem rätselhaften Namen: „Produktion von Migration“

Ein neuer Sonderforschungsbereich (SFB) braucht natürlich auch einen Namen. Die Universität Osnabrück ist da für ihren SFB 1604 mit „Produktion von Migration“ ins Risiko gegangen. Eine Doppeldeutigkeit, eine Verrätselung.

Beheimatet im Institut für Migrationsforschung und Interkulturelle Studien (IMIS), provoziere „Produktion von Migration“ durchaus, bestätigt Andreas Pott, Professor für Sozialgeographie am IMIS und Sprecher des SFB. Das zeige: „Wir versuchen den Blick auf Migration zu verändern, Migration nicht mehr als etwas vorauszusetzen, das selbstverständlich gegeben ist.“

SFB 1604 betrachtet Migration „als Herstellungsleistung verschiedenster Kontexte und Akteure“, erklärt Pott, „als gesellschaftlichen Aushandlungsprozess, in dem Begriffe wie ‚Migration‘ bestimmte Bedeutungen erhalten und sich die Wahrnehmung von Migration wandelt“. Seit April dieses Jahres sind rund 50 WissenschaftlerInnen aus Geographie und Psychologie, aus Geschichte, Sprach-, Rechts- und Sozialwissenschaften in 15 Projekten in „Produktion von Migration“ tätig. Sie sind weit gefächert, greifen aber analytisch ineinander. Sie beziehen migrantische Communities ein, erstrecken sich in ihrer Empirik bis ins Ausland, von Serbien bis zum Senegal.

Das Forschungsfeld ist noch jung. „Bis Anfang der 2000er war es ein Randthema“, sagt Pott. „Seitdem erlebt es einen Boom.“ Im SFB 1604 reichen die Untersuchungen vom Blick in die Vergangenheit bis zu Prognosen für die Zukunft, vom Blick auf die Kommunalverwaltung bis zum Fokus auf die Religion.

Es gelte, „lange Linien“ zu ziehen, sagt Pott, grundlegende Mechanismen, Funktionen, Dynamiken und Prozesse zu verstehen. Nicht zuletzt geht es um die Rolle der Wissenschaft selbst, die, selbst daran beteiligt, „die gesellschaftliche Bedeutung von Migration zu produzieren“, zu ihrem eigenen Forschungsgegenstand wird.

Federführend im SFB ist die Universität Osnabrück, hinzukommen Forschende der Universität Münster, der Goethe-Universität Frankfurt am Main, der Europa-Universität Flensburg, der TU Dortmund und der FU Berlin in Zusammenarbeit mit dem Leibniz-Zentrum für Zeithistorische Forschung Potsdam.

Bis Ende 2027, für die erste Förderphase des auf zwölf Jahre angelegten Verbundes, stehen der Universität Osnabrück rund 8,3 Millionen Euro der Deutschen Forschungsgemeinschaft zur Verfügung. Alle vier Jahre wird Zwischenbilanz gezogen. „Dann wird evaluiert, wo wir stehen“, sagt Pott. „Die Fortsetzung ist also kein Automatismus.“

Gut fünf Jahre hat die Vorbereitung für SFB 1604 gedauert. „Die Zusammensetzung des Teams muss ja passen“, sagt Pott. „Man muss die gleiche Sprache sprechen, die gleiche grundlegende Perspektive verfolgen.“ Er räumt ein, dass es bisweilen ernüchternd sei zu erleben, wie sehr die Hoffnung trügen könne, Wissenschaft verändere und verbessere die Welt: „Nehmen wir den Begriff Remigration. Die Rechten belegen ihn völlig anders, als wir das in der Forschung tun. Da bemerkt man immer wieder, welch unterschiedlichen Logiken Wissenschaft und Politik folgen.“

Die Forschenden beziehen migrantische Communities ein, erstrecken sich in ihrer Empirik bis ins Ausland

Wichtig ist „Produktion von Migration“ der Wissenstransfer in die Gesellschaft. „Das ist ein Dialog, den wir von Beginn an führen“, betont Pott. „Wir forschen also nicht erst jahrelang, bevor davon etwas an die Öffentlichkeit dringt.“ Ein Dialog, der in Podiumsdiskussionen sichtbar wird, auch in der Zusammenarbeit mit dem Kölner Dokumentationszentrum und Museum über die Migration in Deutschland.

Ein Ansatz, der besonders wichtig ist in Zeiten starker gesellschaftlicher Polarisierung. „Da wird ja gezielt Angst aufgebaut, Wissen verfälscht, ignoriert. Dem treten wir entgegen.“ Harff-Peter Schönherr

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