Umstrittener Videobeweis: Wird so der Fußball gerechter?

Der Video Assistent Referee greift oft in die Spiele dieser Europameisterschaft ein. Wem nutzt diese Technologie? Ein Pro & Contra.

Videobeweis-Animation auf einer Anzeigentafel im Berliner Olympiastadion

Schon drüber oder noch Linie? Die Animationen durch den VAR liefern die Bilder dieser EM Foto: imago/sportpix

Ja,

Der VAR ist die beste Erfindung, die jemals im Fußball gemacht wurde. Endlich hat es ein Ende mit der Ambiguität, mit dem Ungefähren. Der Video Assistant Referee schafft mit seinem segensreichen Wirken ultimative Klarheit. Er objektiviert und befriedet das Spiel. Denn wer kann schon etwas gegen die unbestechliche Letztgültigkeit einer quasi maschinellen Entscheidung sagen? Eben.

Der VAR verkündet Wahrheit – und hat mit seiner Einführung eine kopernikanische Wende im Fußball herbeigeführt. Wo früher der Linienrichter mit seiner Fahne herumwedelte, eine Sicherheit suggerierend, die er definitiv nicht haben konnte, so sehen wir heute gestochen scharfe Tatortprotokolle, ehrliche Schnappschüsse, die jede Diskussion auf dem Feld ersticken. VAR und Hawk-Eye (im Tennis) weisen den Weg, wenngleich an der VARen Inszenierung im Fußballstadion noch gearbeitet werden muss: Den Fans kann Transparenz zugemutet werden.

Kann-Entscheidungen gibt es in der VARen Welt nicht, nur faktische. Wenn der dänische Stürmer mit der Schuhspitze im Abseits war, ein paar Zentimeter nur, dann ist das halt so. Es macht keinen Unterschied, ob es zwei Meter oder zwei Millimeter sind. Abseits ist Abseits! Wer das hinterfragt, hat wohl ein generelles Problem mit Regeln, spaziert auch vor kleinen Kindern über rote Ampeln oder macht in der Tempo-30-Zone einen auf Bleifuß.

Der VAR hat eine kopernikanische Wende im Fußball herbeigeführt

Die Akzeptanz einer VAR-Entscheidung darf nicht davon abhängen, ob mir dieses oder jenes Team, dieser oder jener Stürmer sympathisch ist oder nicht, es geht um freudige Duldung eines klinischen Bewertungssystems. Dabei darf auch die Häufigkeit des VAR-Einsatzes keine Rolle spielen. Und gibt es in einem Spiel einmal mehr strittige Situationen? Umso besser, dann geht es eben doppelt oder dreifach gerechter auf dem Spielfeld zu. Der VAR schafft Rechtsfrieden unter den Parteien. Im Kölner oder jetzt dem Leipziger Keller sitzt eine höhere Instanz, die das Spiel so vermisst, dass alle Betroffenen sagen können: Ja, so ist es, großer Manitu!

Ein Abseits kann der VAR mittlerweile gut aufklären, Handlungsbedarf besteht freilich noch bei der Festlegung eines Handspiels. Im Entscheidungsprozess kommt leider immer noch die Fehlerquelle Mensch hinzu. Der Schiedsrichter urteilt letztlich über die Strafbarkeit eines Handspiels. Das ist unsauber, oft willkürlich. Das muss auch noch schleunigst automatisiert werden. Vorschlag: Wenn der an der Hand angeschossene Verteidiger rechnerisch gar keine Zeit hatte, den Arm wegzuziehen, weil er eben kein psychomotorischer Zaubermeister ist, dann ist er unschuldig. Das sollte doch in Zeiten von Supercomputern und KI möglich sein, oder?

Noch immer ist zu viel Unsicherheit und Subjektivität im Spiel. Der Fußball aber verdient Besseres. Das Bessere liegt eindeutig im Aufkündigen einer verquasten Tradition, die nur dies garantierte: Pi-mal-Daumen-Entscheidungen und Zugunsten-des-Angreifers-Quatsch. Wir leben nun in einer authentischeren Fußballwelt, dem großen VAR sei Dank! Markus Völker

Nein,

Wenn es nach mir ginge, hätte der Dortmunder Starkregen auch diesen Videokeller volllaufen lassen können. Während Journalisten und Fans immer noch auf der Suche nach einem prägenden Spieler dieser Europameisterschaft sind, steht das Gesicht der Euro fest: ein animiertes Männchen, dessen Fuß mal über einer willkürlich gezogenen Linie steht oder knapp dahinter.

Der Video Assistant Referee, abgekürzt VAR, soll, so sagen seine Befürworter, den Zufall minimieren und das Spiel gerechter machen. Dafür werden kalibrierte Linien auf Bildschirme gezogen, Spielszenen werden in reduzierter und animierter Form nachgestellt, und herauskommen soll: Gerechtigkeit. Das soll gelingen, in dem alles, was den Fußball schön und attraktiv macht, eliminiert wird. Kein genialer Pass, der nach nur kurzem Blick geschlagen wird. Kein Dribbling und keine Körpertäuschung, mit der sich ein Spieler gegen einen anderen durchsetzt. All das wird für nichtig erklärt, entscheidend ist diese kalibrierte Linie. Sie soll exakt den Moment markieren, in dem der Ball den Fuß des passenden Spielers verlassen hat. Dass hier aber immer noch großer Spielraum ist, weiß jeder, der Spiele aus eigener Anschauen kennt. Und jeder, der sich mit Medientheorie ein wenig auskennt, weiß, dass zur Beurteilung etwa von Zweikämpfen und Fouls die Kameraposition entscheidend ist.

Es ist eine Scheinobjektivität, die uns mit VAR und Videobeweis aufgetischt wurde. Eigentlich wissen das alle, aber wer will so etwas? Solche Leute, die viel Geld investieren und es nicht durch eine zufällige Fehlentscheidung der 23. Person auf dem Feld, die mit Pfeife und Autorität ausgestattet ist, verlieren wollen. Es ist der Versuch, den Fußball zu einer berechenbaren Größe zu machen. Ein marktförmiger Fußball.

Doch die Schönheit des Fußballs besteht ja gerade darin, dass er nicht berechenbar ist. Der berühmte Herberger’sche Satz „Der Ball ist rund“ drückt ja gerade aus, dass in diesem Sport alles möglich ist und sein muss. Die Regeln, die, damit Fußball der attraktive Sport bleibt, der er ist, wurden über hundert Jahre lang von Schiedsrichtern kontrolliert, und noch nach jüngsten Berechnungen aus dem Profifußball lag die Fehlerquote immer nur bei etwa sieben Prozent.

Mit VAR gäbe es die Wembley-Tor-Debatte nicht. Das wäre schade.

Über diese kleine Quote kann diskutiert werden, das macht den Fußball zu einem Kulturgut. „Drin oder Linie?“, das ist fast 60 Jahre nach dem WM-Finale 1966 in Wembley immer noch die Frage, die deutsche Fans erregt: Geoff Hursts Lattentreffer zum 3:2. Ein damals eingesetzter VAR hätte vielleicht zu einer Annullierung des Treffers geführt, aber was noch? Es hätte kurzfristig den englischen Jubel im Stadion ruiniert, weil ja erst auf das Ergebnis der Videoanalyse hätte gewartet werden müssen. Und langfristig wäre uns eines der schönsten Debattenthemen der vergangenen Jahrzehnte entwendet worden.

Ob jemand im Abseits steht, sollten wir uns bitte weiterhin mit der Definition des legendären Trainers Hennes Weisweiler erklären: „Abseits ist, wenn das blonde Arschloch wieder den Ball zu spät abspielt.“ Martin Krauss

Einmal zahlen
.

Fehler auf taz.de entdeckt?

Wir freuen uns über eine Mail an fehlerhinweis@taz.de!

Inhaltliches Feedback?

Gerne als Leser*innenkommentar unter dem Text auf taz.de oder über das Kontaktformular.

Wir würden Ihnen hier gerne einen externen Inhalt zeigen. Sie entscheiden, ob sie dieses Element auch sehen wollen.

Ich bin damit einverstanden, dass mir externe Inhalte angezeigt werden. Damit können personenbezogene Daten an Drittplattformen übermittelt werden. Mehr dazu in unserer Datenschutzerklärung.

Wir würden Ihnen hier gerne einen externen Inhalt zeigen. Sie entscheiden, ob sie dieses Element auch sehen wollen.

Ich bin damit einverstanden, dass mir externe Inhalte angezeigt werden. Damit können personenbezogene Daten an Drittplattformen übermittelt werden. Mehr dazu in unserer Datenschutzerklärung.

Wir würden Ihnen hier gerne einen externen Inhalt zeigen. Sie entscheiden, ob sie dieses Element auch sehen wollen.

Ich bin damit einverstanden, dass mir externe Inhalte angezeigt werden. Damit können personenbezogene Daten an Drittplattformen übermittelt werden. Mehr dazu in unserer Datenschutzerklärung.

Bitte registrieren Sie sich und halten Sie sich an unsere Netiquette.

Haben Sie Probleme beim Kommentieren oder Registrieren?

Dann mailen Sie uns bitte an kommune@taz.de.

Ihren Kommentar hier eingeben