Wie sich die Ukraine verteidigt: Kein Durchbruch. Nirgends

Für viele westliche Meinungsmacher stand die Ukraine vor Kurzem mal wieder vor dem Kollaps. Dahinter stecken Ignoranz oder Wunschdenken.

Russische Propgandaplakate und ein Mann im Rollstuhl im Vordergund

Von den enormen russischen Verlusten steht auf diesen Propagandaplakaten in St.Petersburg nichts Foto: Dmitri Lovetsky/dpa

Als der russische Machthaber Wladimir Putin vor zweieinhalb Jahren seine Groß­invasion in der Ukraine begann, war er wie weltweit die meisten Politiker und Experten davon überzeugt, dass die Ukraine innerhalb weniger Tage fallen würde. Der russische Staatschef stützte sich dabei vor allem auf den Mythos, dass die Ukraine ein gespaltener und schwacher Staat mit einer Armee sei, die sich nicht selbst verteidigen könne. Noch überzeugter war er von der Unfähigkeit des Westens, einig zu sein und zu bleiben und die Ukraine dauerhaft zu unterstützen.

Nach 28 Monaten Konfrontation mit einer der größten Armeen der Welt gibt es in Kyjiw aber immer noch eine ukrainische Regierung, und über dem Parlament, der Werchowna Rada, weht weiterhin die ukrainische Flagge. Doch jedes Mal, wenn westliche Geheimdienste über die Konzentration neuer russischer Gruppen entlang der ukrainischen Grenze berichten, sagen Analysten einen baldigen Durchbruch der Frontlinie voraus, der katastrophale Folgen für die Ukraine haben könnte. So geschehen Anfang Mai, als russische Truppen die ukrainische Staatsgrenze im Norden des Landes in der Region Charkiw überschritten.

„Düstere Prognose von Militärexperten: ‚Dammbruch‘-Szenario für Front im Ukrainekrieg“ oder „Schock in der Ukraine: Wie kam es zu dem militärischen Fiasko für Kyjiw?“ – solche und ähnlich dramatische Schlagzeilen erscheinen häufig in den Medien. Analysten der britischen Zeitschrift The Economist prognostizierten Anfang des Jahres, dass die neue Offensive Russlands weitaus schwieriger einzudämmen sein werde als die zu Beginn der Invasion.

Vor diesem Hintergrund haben andere führende westliche Medien wiederholt pessimistische Szenarien für die Ukraine veröffentlicht, bis hin zu einer Offensive russischer Truppen in Richtung Charkiw und Kyjiw. Jedes Mal provozieren solche Veröffentlichungen Debatten über die Zweckmäßigkeit einer militärischen Unterstützung der Ukraine, wenn Russland doch angeblich ohnehin nicht zu besiegen ist.

Manchmal scheint es sogar, als ob man sich auf diese Weise wünschte, dass die Front in der Ukraine wirklich zusammenbräche und die Russen einen Durchbruch erzielten – um damit die uneinsichtigen Ukrainer endlich zu Verhandlungen mit Russland und zur Annahme seiner Ultimaten zu zwingen. Die Lage an der Front ist jedoch sowohl für die Ukraine als auch für Russland viel komplexer, als es die These von der Unbesiegbarkeit Russlands vermittelt.

Hohe russische Verluste

Das Wort Durchbruch muss sehr bewusst verwendet werden. Die heutige Lage an der Front erlaubt es nicht, von Frontdurchbrüchen und der schnellen Eroberung von Gebieten in kurzer Zeit zu sprechen, wie es im Frühjahr 2022 der Fall war. Die heutige Front ist auf beiden Seiten unglaublich gesättigt mit Drohnen verschiedener Typen – Aufklärungs-, Angriffs-, Wärmebild- und Nachtdrohnen. Diese Situation lässt keine schnellen Durchbrüche zu, da beide Seiten die Aktionen der anderen Seite auf dem Schlachtfeld deutlich sehen können.

Dies ist auch einer der Gründe, warum die russische Armee nicht mehr in Fahrzeugkolonnen vorrücken kann: Diese werden sofort ­vernichtet, wie bereits mehrfach geschehen. Auch wenn die russische Armee personell und materiell überlegen ist, kann sie daher nur an einzelnen Frontabschnitten lokalisierte Durchbrüche erzielen, was sie auch tut. Gleichzeitig sind unter diesen technologischen Bedingungen die Verluste der russischen Armee an Personal und Technik deutlich höher als die erzielten Ergebnisse.

Im Durchschnitt verliert Russland bei seinen Offensivversuchen in der Ukraine etwa tausend Soldaten pro Tag. Das sind selbst für die russische Armee erhebliche Verluste. Dies hat zur Folge, dass die Mobilisierungsressourcen, die diese Verluste ausgleichen sollen, nicht genügend Zeit für die Ausbildung haben und schlecht trainierte Soldaten langsam vorankommen und schnell sterben. Jeder neu eroberte Kilometer ukrainischen Territoriums kostet die russische Armee Tausende von Menschenleben.

Voraussetzungen für einen langen Zermürbungskrieg

Die ukrainische Seite, die ihr Land verteidigt, steht vor noch größeren Herausforderungen. Der anhaltende russische Druck erschöpft die ukrainische Armee, die personell stark unterbesetzt ist und deren Mobilisierungsbemühungen gescheitert sind. Das Fehlen von Granaten aufgrund einer sechsmonatigen Verzögerung der versprochenen US-Militärhilfe erzwang etwa den Verlust von Städten wie Awdijiwka. Die in letzter Minute an der Front angekommene Hilfe hat jedoch nicht nur die russische Offensive in der Oblast Charkiw gestoppt, sondern die Russen sogar zurückgedrängt und sie daran gehindert, die Ruinen der von ihr zerstörten Stadt ­Wowtschansk einzunehmen.

Trotz der Sättigung mit Granaten ist es für die ukrainische Armee viel schwieriger, die Frontlinie in der Region Donezk zu halten, wo die russische Armee, die die Fehler der ukrainischen Militärführung und die Verzögerung der Hilfe ausnutzt, langsam, aber sicher vorrückt und sich der strategisch wichtigen Stadt Pokrowsk mit mehreren Tausend Einwohnern nähert. All diese Faktoren schaffen derzeit die Voraussetzungen für einen langen Zermürbungskrieg.

In den ukrainischen Volksmärchen geht es häufig um vermeintlich Schwache, die sich mit Einfallsreichtum und Gerissenheit gegen die Starken wehren. Genau das tut die Ukraine, um sich gegen Russland zu verteidigen. Auch mit weniger Ressourcen ist die Ukraine in der Lage, der russischen Armee wirksam entgegenzutreten und ihre Gebiete zurückzuerobern, insbesondere wenn die Unterstützung der Verbündeten nicht politischer Manipulation zum Opfer fällt.

Und wenn der US-Präsidentschaftskandidat Trump in der Debatte mit Biden sagte, die Ukraine werde diesen Krieg verlieren, dann sollte man ihn außer an die hier dargelegten Fakten daran erinnern, dass es sich bei diesem Krieg nicht nur um einen Kampf der Ukraine gegen Russland handelt, sondern um eine Konfrontation von Demokratien gegen eine Allianz aus Autokratien. Im Kreml führen solche Aussagen dazu, dass die Landkarte Europas aufgeklappt wird, um das nächste Opfer der Aggression zu bestimmen.

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Anastasia Magazova ist 1989 auf der Krim (Ukraine) geboren. Studium der ukrainischen Philologie sowie Journalismus in Simferopol (Ukraine). Seit 2013 Autorin der taz und seit 2015 Korrespondentin für die Deutsche Welle (DW). Absolventin des Ostkurses 2014 und des Ostkurses plus 2018 des ifp in München. Als Marion-Gräfin-Dönhoff-Stipendiatin 2016 Praktikum beim Flensburger Tageblatt. Stipendiatin des Europäischen Journalisten-Fellowships der FU Berlin (2019-2020) in Berlin. Als Journalistin interessiert sie sich besonders für die Politik in Osteuropa sowie die deutsch-ukrainischen Beziehungen.

Wir alle wollen angesichts dessen, was mit der Ukraine derzeit geschieht, nicht tatenlos zusehen. Doch wie soll mensch von Deutschland aus helfen? Unsere Ukraine-Soli-Liste bietet Ihnen einige Ansätze fürs eigene Aktivwerden.

▶ Die Liste finden Sie unter taz.de/ukrainesoli

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