piwik no script img

Gefangene bekommen eigene Psychiatrie

Je­de:r fünfte Gefangene in Schleswig-Holstein braucht eine psychische Behandlung. Lübeck plant deshalb eine Klinik auf Gefängnisgelände. Die soll allerdings erst 2027 stehen

Haben sich schon mal umgeschaut: Daniel Günther und Kerstin von der Decken beide CDU) im Lübecker Knast Foto: Felix Müschen/dpa

Von Esther Geißlinger

Viele Gefangene sind psychisch krank – und erhalten zu wenig Hilfe. Kritik daran übte unter anderem der Europarat, der im Herbst 2022 die Zustände in mehreren Gefängnissen begutachtete. In Schleswig-Holstein haben rund 20 Prozent der insgesamt 2.900 Gefangenen „psychische Auffälligkeiten und einen entsprechenden Behandlungsbedarf“, schätzt Marc Arnold, Leiter des Gefängnisses in Lübeck. Ministerpräsident Daniel Günther und Justiz- und Gesundheitsministerin Kerstin von der Decken (beide CDU) informierten sich jüngst über den Umgang mit den betroffenen Häftlingen in der Lübecker Haftanstalt.

Schlüssel klappern, als Silke Nagel die Tür aufschließt. Dann heißt es erst einmal Warten in einem Flur, von dem verschlossene Türen abgehen. Die Polizei bringt einen Neuzugang in das Lübecker Gefängnis, also muss sich die Besuchergruppe um Günther gedulden. „Das ist Leben in der Lage“, sagt Nagel, will sagen: Im Gefängnis gelten ganz eigene Regeln.

Nagel leitet die sozialpsychiatrische Abteilung des Lübecker Gefängnisses mit 479 Plätzen. Dass die psychischen Probleme der Gefangenen zunehmen, merkt sie deutlich: „Früher gab es immer mal eine auffällige Person, die in der Sicherheitsabteilung untergebracht werden musste. Heute ist es ständig so.“ Bei den meisten Betroffenen spiele Drogenmissbrauch eine Rolle, berichtet Nagel. Generell sind Menschen in Haft im Vergleich zur Allgemeinbevölkerung stärker von psychischen Krankheiten wie Schizophrenie oder Depression betroffen.

Als die Be­su­che­r:in­nen endlich in den Hof dürfen, dringen Rufe aus den vergitterten Fenstern des Hafthauses G. In dem Ziegelbau sitzen 181 Gefangene ein. „Die freuen sich“, sagt Anstaltsleiter Marc Arnold.

Das stimmt vermutlich nur halb: Wegen des prominenten Besuchs können die Gefangenen ihre Zellen für eine Weile nicht verlassen. Normalerweise dürfen sich die Männer in den normalen Stationen im Hafthaus G tagsüber im Flur bewegen, einen langen, engen Raum, der Licht durch das Glasdach im obersten Stock erhält. Wer allerdings in Lübeck in Einzelhaft sitzt, sieht zu selten andere Menschen, bemängelte der Europarat, berichtete die Ärztezeitung. Derselbe Vorwurf der Prüfkommission traf das Gefängnis in Celle.

Ein großes Team kümmert sich in Lübeck um psychisch auffällige Häftlinge. Sogar einen angestellten Psychiater gibt es, und bei Engpässen kann Nagel speziell für Psychiatrie ausgebildete Pflegekräfte über die Agentur „Pflegefuxx“ hinzuziehen: „Die haben einfach die besseren Ideen, was man in bestimmten Situationen noch machen kann.“ In extremen Situationen werden Gefangene in die geschlossene Abteilung des Universitätsklinikums gebracht. Das bedeutete aber Zeit- und Personalaufwand, schließlich müssen die Häftlinge dorthin begleitet werden.

Für psychisch kranke Straf­tä­te­r:in­nen gibt es eigentlich forensische Kliniken, die genau auf diese Personen spezialisiert sind. „Aber das ist eine Sache der Gerichte“, sagt Nagel. Nur wenn die Straftat mit der psychischen Krankheit zu tun hat, wird ein Täter in die Forensik eingewiesen. Ist er psychisch krank, war jedoch zum Tatzeitpunkt schuldfähig, kommt er in den Regelvollzug – wie der Mann, der wegen einer tödlichen Messerattacke in einem Zug bei Brokstedt verurteilt wurde und dem ein Gutachter eine schwere psychische Störung bescheinigte. Andere Gefangene entwickeln während der Haft Krankheitssymptome. Die Gefängnisse müssen mit ihnen umgehen.

„Früher gab es immer mal eine auffällige Person, die in der Sicherheitsabteilung untergebracht werden musste. Heute ist es ständig so“

Silke Nagel, Leiterin der sozialpsychiatrischen Abteilung im Gefängnis Lübeck

In Lübeck soll dafür ein neues Gebäude mit 25 Plätzen entstehen, in dem Häftlinge behandelt werden. Für neue Gebäude wird ein Stück der Gefängnis-Gärtnerei überbaut. Ende 2024 soll der Bau starten, die Inbetriebnahme ist für 2027 geplant.

Damit liegt die Haftanstalt hinter ihren ursprünglichen Plänen: Laut der Ausschreibung hatte der Bau bereits Mitte 2023 beginnen und im Februar 2026 die ersten Häftlinge aufnehmen sollen. Wenn auch später als geplant: Den steigenden Bedarf an Behandlungen werde die psychi­atrische Klinik auf dem Gefängnisgelände decken, ist JVA-Leiter Arnold überzeugt.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen