Verfahren wegen Staatsverschuldung: EU geht gegen Sünder vor
Die EU-Kommission leitet Defizitverfahren gegen Frankreich, Italien und und fünf weitere EU-Länder ein, die zu hohen Geldbußen führen können.
![Präsident Macron macht eine Grimasse. Präsident Macron macht eine Grimasse.](/picture/7072238/624/35607029-1.jpeg)
Für Frankreichs Präsident Macron kommt der blaue Brief aus Brüssel zur Unzeit Foto: Dylan Martinez/reuters
BRÜSSEL taz | Es geht wieder los: Nach jahrelanger Pause wegen der Coronapandemie will die EU-Kommission erneut gegen „Schuldensünder“ und hohe Budgetdefizite vorgehen. Frankreich, Italien und fünf weitere EU-Länder müssen mit der Eröffnung eines sogenannten Defizitverfahrens rechnen, teilte die Brüsseler Behörde am Mittwoch mit. Zur Begründung verwies die Kommission auf die neuen Schuldenregeln, die seit April in Kraft sind. Sie sehen enge Grenzen für die Staatsverschuldung und das laufende Budgetdefizit vor. Als Nächstes müssen noch die Finanzminister zustimmen, das ist im Juli geplant. Defizitverfahren können zu hohen Geldbußen führen.
Für Frankreich kommt der blaue Brief aus Brüssel zur Unzeit. Präsident Emmanuel Macron hat nach Verlusten bei der Europawahl für den 30. Juni Neuwahlen angesetzt. Umfragen zufolge liegen die Nationalisten von Marine Le Pen vorn. Ihr Wahlsieg könnte Frankreich in eine Finanzkrise stürzen, Spekulanten wetten bereits eifrig gegen Paris.
Auch in Italien und Belgien schlug die Nachricht ein wie eine Bombe. In Belgien haben gerade die Verhandlungen für eine neue Regierung unter Führung des flämischen Nationalisten Bart De Wever begonnen. Harte Sparauflagen der EU gefährden die Koalitionsgespräche. Und in Italien lehnt man neue Kürzungsprogramme aus Brüssel ohnehin ab.
Die EU-Kommission versuchte, ihren harten Kurs freundlich zu verpacken. Die neuen Schuldenregeln sähen angepasste, länderspezifische Pläne zum Defizitabbau vor, hieß es. Außerdem werde man soziale Probleme sowie Investitionen in die Rüstung und in den Klimaschutz berücksichtigen.
3 Prozent Wirtschaftsleistung einsparen
Auf Nachfrage räumte die Behörde ein, dass die Defizitverfahren eine „milde dämpfende Wirkung“ auf die Konjunktur haben: Das ohnehin schwache Wirtschaftswachstum wird weiter gebremst. Nach Berechnungen der Denkfabrik Bruegel müsste Belgien staatliche Ausgaben im Wert von 3 Prozent der Wirtschaftsleistung kürzen, Frankreich 3,7 und Italien sogar 4,3 Prozent. Dies dürfte zu sozialen und wirtschaftlichen Verwerfungen führen. Verschont hat die EU Deutschland. Obwohl das größte EU-Land die 60-Prozent-Grenze bei der Gesamtverschuldung überschreitet, droht kein Strafverfahren.
Bundesfinanzminister Christian Lindner (FDP), der die neuen EU-Regeln mit ausgehandelt hat, könnte sich entspannt zurücklehnen und mehr Geld ausgeben. Dennoch will er an der umstrittenen Schuldenbremse festhalten und das deutsche Budget kürzen. Deutschland müsse „Stabilitätsanker“ in Europa bleiben – „wegen der Entwicklungen in Frankreich, aber auch der fiskalischen Lage in Italien“, sagte Lindner. Wenn es dabei bleibt, treten bald die beiden größten EU-Länder – Deutschland und Frankreich – gleichzeitig auf die Sparbremse.
Leser*innenkommentare
Tom Farmer
Schlug ein wie eine Bombe.... Kann mir nicht vorstellen, dass keine italienischen oder französischen Abgeordneten oder Beamten da nicht involviert waren. Wie auch immer, man kann das ja kritisch beleuchten, Nur: wenn man sich selbst Regeln gibt, wäre es natürlich schön die auch einzuhalten. Schwierig in der heutigen Welt?
Rudi Hamm
"EU geht gegen Sünder vor..."
und hier reden die roten und grünen von noch mehr Schulden machen, als ob 2.500.000.000€ (=2.5 Billionen) Schulden nicht schon genug Last für unsere Kinder wären. Was andere "in die Zukunft investieren" nennen, nenne ich "bereits für die Kinder in den Sand gesetzt".
Klar dass die EU nun die Notbremse zieht, Deutschland fällt ja wegen miserabler Wirtschaftspolitik bald als Zahler aus.
Tom Farmer
@Rudi Hamm Ganz so statisch kann man das ja nicht sehen. Auch die Kinder haben ja Vorteile nicht auf dem nächstbesten Acker geboren zu werden.
Aber wieder richtig: mit welcher Selbstverständlichkeit darüber geurteilt wird, was denn die zukünftige Generation so angeblich will und dafür Schulden gemacht werden sollen ist oft vermessen.
Nein, vielen Entscheidern geht es oft um ein bequemes 'Jetzt' und politische Macht. Wie Versicherungsleute die alle möglichen Szenarien beschreiben um Policen zu verkaufen. Das ist zurecht zu kritisieren.
Rudi Hamm
@Tom Farmer Gut formuliert, dem stimme ich gerne zu.