Wohnen in Notunterkünften: 53 Jahre statt nur temporär

Eine neue Studie zeigt: Wohnungslose bleiben oft viel länger in Notunterkünften als vorgesehen. Sie beklagen desolate Zustände in den Einrichtungen.

Leeres Bett mit Fahrrad in einer Straßenecke

Schlechte Erfahrungen in Notunterkünften treiben viele Betroffene zurück auf die Straße Foto: Chromorange/imago

BERLIN taz | Notunterkünfte für Obdachlose und wohnungslose Geflüchtete sind meist nur als kurze, temporäre Lösungen gedacht. Doch stattdessen bleibt mehr als ein Drittel der Be­woh­ne­r:in­nen oft länger als ein Jahr in den sogenannten ASOG-Unterkünften mit einfachsten Standards.

Mit deren Lebenssituation hat sich nun ein Praxisforschungsprojekt der Alice-Salomon-Hochschule (ASH) befasst. Gemeinsam mit der Liga der Wohlfahrtsverbände haben Stu­den­t:in­nen 23 Be­woh­ne­r:in­nen im Alter von 14 bis 74 Jahren aus verschiedenen Unterkünften befragt. Die Ergebnisse präsentierten sie mit einer Podiumsdiskussion am Mittwoch in der Baptistengemeinde Schöneberg.

„Die Unterkünfte platzen aus allen Nähten und die Verweildauer steigt ständig an“, sagte Andrea Asch von der Liga und forderte einen „dringenden Plan, wie menschenwürdige Unterbringung gelingen kann“. Denn ein Ergebnis ihrer Befragung ist: Die von ihnen interviewten Personen blieben zwischen 2 Monaten bis zu 53 Jahren in diesen Zwischenlösungen hängen.

Insgesamt waren knapp 35.000 wohnungslose Personen 2023 in diesen Unterkünften in Berlin untergebracht, mehr als 10.000 davon waren Kinder und Jugendliche. 2023 betrugen die Gesamtkosten für diese Unterkünfte in Berlin knapp 355 Millionen Euro – also fast 1 Million Euro pro Tag.

„Nicht mehr zeitgemäß“

„Mit diesem Geld könnten wir sicher etwas Besseres umsetzen“, resümierte Susanne Gerull von der ASH, die das Projekt leitete. „Wir brauchen eine komplette Umstrukturierung des Hilfesystems“, sagte sie.

Gerull verwies später in der Diskussion auf gelungene Housing-First-Projekte in Hannover. In Berlin dagegen habe es in den letzten 20 Jahren kaum Veränderungen des Mindeststandards gegeben. Das Regelsystem sei somit schon lange nicht mehr zeitgemäß. „Die ASOG-Unterkünfte sind eher von der Idee einer kurzfristigen Gefahrenabwehr zu einer Dauerlösung geworden“, heißt es entsprechend in der Studie.

Susanne Hinneberg lebt selbst seit vier Jahren in einer der Unterkünfte und hat die Studie als wissenschaftliche Begleiterin mit ihren Erfahrungen unterstützt. „Das muss endlich aufhören. Menschen brauchen angstfreie Räume“, sagt sie. Viele der Be­woh­ne­r:in­nen in den Unterkünften stünden unter einem ständigen psychischen Druck, verbunden mit der Sorge, den Platz zu verlieren.

Unzumutbare Zustände

Auch wenn formale Mindeststandards oft eingehalten werden, bemängelten die Interviewten teilweise unzumutbare Zustände in den Sanitärbereichen, fehlende An­sprech­part­ne­r:in­nen und dass es oft faktisch kein soziales Unterstützungsangebot gibt, um aus der Wohnungslosigkeit entfliehen zu können. Zudem fehle jede Privatsphäre. Gerade für besonders vulnerable Gruppen, wie Familien, Frauen und queere Menschen, sei das Fehlen von Schutzräumen schlichtweg unzumutbar.

Ein Hauptproblem: der Großteil der Unterkünfte sei gewerblich betrieben. Die Befragten bezeichnen die Einrichtungen teils als „Gelddruckmaschine“ für private Unternehmen. Eine Lösung wäre demnach, sie in die Hände von Kommunen und freien Trägern zu geben.

Für Gerull bleibt es abschließend „skandalös, dass wir es bisher nicht geschafft haben, menschenwürdige Standards zu entwickeln“. Zusammen mit der Liga fordert sie zielgruppenspezifische Angebote, die Verkürzung der Aufenthaltsdauer und die Planung und Entwicklung einer vom Senat initiierten Beschwerdestelle für akut wohnungslose Menschen.

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