Berufsorientierung in Berlin: Fitter für die Ausbildung

Ein 11. Pflichtschuljahr soll Jugendliche ohne berufliche Perspektive besser Richtung Ausbildung orientieren. Doch hilft da tatsächlich mehr Schule?

Zwei Schülerinnen an einer Kreissäge

Augen auf bei der Berufswahl – und an der Maschine: Schülerinnen üben das Sägen mit der Kreissäge Foto: imago stock&people

BERLIN taz | Schule – und dann? Auf diese Frage haben anscheinend jedes Jahr rund 3.000 Berliner Schü­le­r*in­nen keine Antwort. Sie finden nach dem Ende der Schulpflicht – in der Regel nach der 10. Klasse – weder den Weg in eine Ausbildung, noch melden sie sich an einer weiterführenden Schule an. Aus Sicht des Senats gehen damit pro Jahr rund 10 Prozent der rund 30.000 Schü­le­r*in­nen jeder 10. Jahrgangsstufe einfach „verloren“. Denn aus Datenschutzgründen hat die Verwaltung bisher keinen Einblick darin, was sie nach dem Ende der Schulpflicht machen.

Mit dem 11. Pflichtschuljahr will der Senat diese Gruppe nun gezielt auf eine Ausbildung vorbereiten – und besser im Auge behalten. In der Bildungsverwaltung hält man die Jugendlichen für „nicht hinreichend orientiert“. Diesen Jugendlichen will der Senat mit einem weiteren Jahr an der Schule nun ein Angebot machen. Ziel ist, die Jugendlichen bei dem Weg in eine Ausbildung oder beim Übergang in die weiterführenden Schulen der Sekundarstufe II zu unterstützen. Doch wie sinnvoll ist es, junge Menschen in einem System zu halten, das sie auch vorher offensichtlich nicht erreicht hat?

Das Pflichtschuljahr soll am Donnerstag im Bildungsausschuss diskutiert werden. Geplant ist, dass die Schü­le­r*in­nen das zusätzliche Jahr in kleinen Klassen von maximal 15 Personen an den Oberstufenzentren (OSZ) absolvieren. Bildungssenatorin Katharina Günther-Wünsch (CDU) hat dafür bestimmte OSZ als „Ankerschulen“ im Blick, die auch in schwierigen Fällen gezielt fördern sollen. Die Senatorin bekommt dafür Zuspruch: Po­li­ti­ke­r*in­nen anderer Parteien sowie Verbände und Kammern halten das zusätzliche Pflichtschuljahr an sich für eine gute Idee. Die Umsetzung wirft aber Fragen auf und stößt auch auf Kritik.

Die Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) etwa begrüßt grundsätzlich, dass das 11. Pflichtjahr eingeführt werden soll, fordert aber, es sollte „insbesondere zur Förderung der personellen und sozialen Kompetenzen sowie zur Orientierung für den eigenen Weg in die Berufswelt dienen“. Eine „Fixierung auf die ‚Verwertbarkeit‘ von Schü­le­r*in­nen für eine Ausbildung und den Arbeitsmarkt“ lehnt die GEW ab. Es sollte in dem Schuljahr auch keinen klassischen Unterricht mehr geben, sondern „auf individuelle Bedürfnisse zugeschnittene Lernpläne“, fordert die Gewerkschaft. Von der Ausgestaltung werde der Erfolg des Pflichtschuljahres abhängen.

Grüne wollen „Perspektivenjahr“

Dieser Ansicht ist auch Klara Schedlich, Sprecherin für Jugendpolitik und berufliche Bildung der Grünen-Fraktion im Abgeordnetenhaus. Die Grünen wollen daher stattdessen ein flexibles „Perspektivenjahr“: Denn schon der Begriff „Pflichtschuljahr“ sei nicht dazu geeignet, bei der Zielgruppe Vertrauen hervorzurufen. „Berufliche Orientierung muss zu einer echten Kernaufgabe an den Berliner Schulen werden“, fordern die Grünen.

„Mehr vom Gleichen wird diesen Jugendlichen nicht helfen“, kritisiert Schedlich. Im Perspektivenjahr, wie sie es sich vorstellt, sollte den Jugendlichen dann mit Praktika und Ausbildungsplätzen in den Betrieben ein „kreatives und multiprofessionelles Angebot“ gemacht werden. Dabei sollten auch So­zi­al­päd­ago­g*in­nen beraten und unterstützen. Das Perspektivenjahr müsse auch Jugendliche mit Behinderungen, mit Förderbedarf und aus schwierigen sozialen Verhältnissen erreichen.

Auch die Industrie- und Handelskammer (IHK) begrüßt das 11. Pflichtschuljahr. Dort hält man aber für entscheidend, dass das Jahr tatsächlich für die Berufsorientierung genutzt werde – und mahnt an, dass bereits in den unteren Klassenstufen praxisorientierte Berufsorientierung angeboten werden sollte. „Der Großteil des 11. Pflichtschuljahrs muss aus fachpraktischen Phasen bestehen, in denen die Schülerinnen und Schüler Erfahrungen in Ausbildungs­betrieben sammeln und bestenfalls dort sofort in die Aus­bildung wechseln können“, fordert die IHK. Die Gefahr bestehe sonst, dass Jugendliche einfach in Maßnahmen „geparkt“ würden.

Beim Pilotprojekt „Berliner Ausbildungsmodell“ würden Bil­dungs­be­glei­te­r*in­nen die Jugendlichen betreuen. Dieses Modell sollte ausgeweitet werden. Viele berufsvorbereitende Angebote seien Schülern und Eltern außerdem nicht bekannt und würden dadurch von ihnen nicht genutzt, mahnt die IHK. „Der Bildungsgang Integrierte Berufsausbildungsvorbereitung sollte so umgebaut werden, dass auch hier das primäre Ziel ist, in die duale Ausbildung einzumünden und nicht einen Schulabschluss nachzuholen“, fordert die Kammer.

Ausnahmen für geflüchtete und behinderte Schü­le­r*in­nen

Bislang endet die Schulpflicht nach der 10. Klasse – oder in dem Jahr, in dem die Schü­le­r*in­nen 18 Jahre alt werden. Das stellt unter anderem geflüchtete Jugendliche vor Probleme. Sie haben zum Teil größere Lücken in ihren Bildungskarrieren. Auch Schü­le­r*in­nen mit Behinderungen könnten durchaus vor Beginn des 11. Pflichtschuljahres volljährig werden. Für beide Gruppen müssten Ausnahmeregelungen gefunden werden, fordert die GEW. Die Gewerkschaft pocht auch darauf, zusätzlich zu mehr Leh­re­r*in­nen auch Lernbegleiter*innen, Sozialarbeiter*innen, Psy­cho­lo­g*innen und Se­kre­tä­r*in­nen einzustellen.

Das 11. Pflichtschuljahr war in Berlin im Jahr 2004 abgeschafft worden. Die Hoffnung war damals, dass Jugendliche nach der allgemeinen Schulpflicht bei den Jugendberufsagenturen der 12 Bezirke landen würden. Doch da der Senat die weiteren Lebensläufe der Schul­ab­gän­ge­r*in­nen nicht erfasst, ist unklar, wie gut diese Jugendlichen dann in anderen Strukturen ankommen. In den meisten anderen Bundesländern ist das 11. Pflichtschuljahr Teil der Schule. Bildungssenatorin Günther-Wünsch möchte es zum Schuljahr 2025/26 in Berlin wieder einführen.

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