Vietnamesische Vertragsarbeiter in DDR: Ruinen von Erinnerungen

Die großen Betonklötze an der Gehrenseestraße in Lichtenberg stehen schon seit Jahrzehnten leer, bald soll hier neu gebaut werden.

Eine junge Frau steht vor einem verlassenen Gebäude, drum herum lange Gräser.

Sung Tieu vor ihrem ehemaligen Zuhause Foto: Adam Berry

BERLIN taz | An einem sonnigen und warmen Samstagmittag steht eine Traube Menschen an einer viel befahrenen Straße in Lichtenberg, die einst eine Grenze war: Ab den 80er Jahren trennte sie die Ver­trags­ar­bei­te­r*in­nen der DDR von der deutschen Mehrheitsgesellschaft. Heute sind von der ehemaligen Ver­trags­ar­bei­te­r*in­nen­sied­lung nur noch Ruinen übrig, bald sollen hier neue Wohnungen entstehen.

1994 zog die damals siebenjährige Sung Tieu mit ihrer Mutter und ihrer Freundin in die Gehrenseestraße in Alt-Hohenschönhausen. Ihr Vater war als Vertragsarbeiter aus Vietnam, einem der sogenannten Bruderländer, in die DDR geholt worden. Mittlerweile ist Tieu eine international renommierte Künstlerin und bietet in ihrem ehemaligen Zuhause Führungen zu dessen Geschichte an.

Die gehört eher zu den dunkleren Kapiteln der geteilten Stadt. Sung Tieu durchleuchtet die Gewalt und den strukturellen Rassismus und verwebt dies mit ihren eigenen Erfahrungen. Die Künstlerin will damit auf ein Thema aufmerksam machen, das vom Vergessen bedroht ist. Denn die Baufirma Belle-Epoque will hier gemeinsam mit der landeseigene Wohnungsbaugesellschaft Ho­woge ein „Nachhaltigkeitsquartier“ bauen.

Rund 1.000 Wohnungen sollen hier entstehen, dazu noch eine Grundschule, Kitas sowie Einzelhandel und Gastronomie. Auch ein Erinnerungsort ist geplant. Dennoch befürchtet Sung Tieu, dass mit dem Abriss der Gebäude auch die Geschichte ihrer Be­woh­ne­r*in­nen verschwinden könnte. Das will die Künstlerin verhindern.

Der Spaziergang beginnt an der mehrspurigen Straße, die die Be­woh­ne­r*in­nen der Plattenbauten sichtbar von den deutschen Bür­ge­r*in­nen trennte. Diese Form der architektonischen Segmentierung, so Tieu, sollte die Ar­bei­te­r*in­nen weit weg von den DDR-Bürger*innen und nah an den Fabriken positionieren. Das Areal wird von Nach­ba­r*in­nen als „Schandfleck“ bezeichnet, sagt Tieu.

Zehntausende Menschen kamen nach Ostdeutschland

Durch einen Bauzaun, der sich leicht verrücken lässt, betritt man das sonst abgesperrte, 6,3 Hektar große Gelände zwischen Gehrensee-, Wartenberger und Wollenberger Straße. Seit 2003 liegt das Gelände brach. Der Beton an den Häusern bröckelt, der Asphalt ist an vielen Stellen aufgerissen und übersät mit zersprungenem Glas, zerdrückten Dosen und zerrissenen Plastiktüten. An manchen Stellen liegen Teile der Betonwände auf dem Boden. Die Natur hat sich den Ort zurückerobert: Er ist überwachsen von hohem Gras, Sträuchern und Bäumen. An den Fassaden sind zahlreiche Graffiti zu sehen.

Vor einem großen Loch im Boden kommt die Künstlerin zum Stehen und beginnt zu erzählen. 1980 unterzeichnete die DDR mit Vietnam und anderen Ländern bilaterale Verträge für „Anwerbeabkommen“, um den Fachkräftemangel zu bekämpfen. Zehntausende Menschen kamen nach Ostdeutschland, um zu studieren und zu arbeiten, die meisten von ihnen aus Vietnam. Integriert wurden sie jedoch nicht. Auch waren Privat- und das Berufsleben der Ar­bei­te­r*in­nen durchweg fremdbestimmt. Weder durften sie sich aussuchen, wo sie wohnen, noch wo sie arbeiten oder wie sie leben wollen.

Ruinen von verlassenen Wohnhäusern

Die Hochhäuser verfallen zusehends Foto: Andreas Muhs/caro/picture alliance

Die Leben Zigtausender Menschen, die nach Deutschland kamen, wurden somit bürokratisiert und kontrolliert. Es gab strikte Hausordnungen, die die Ver­trags­ar­bei­te­r*in­nen zu befolgen hatten, etwa was Besuch betraf. An den Eingängen gab es Kontrollen und es wurde Protokoll geführt, wer die Häuser betritt und verlässt, um zu überwachen, wer arbeitet und wer schläft.

Die Gehrenseestraße war der größte Wohnheimkomplex der vietnamesische Community. In neun Häuserblocks mit je sechs Stockwerken gab es um die 1.000 Wohnungen. Pro Person sollten jedem Arbeiter fünf Quadratmeter Privatsphäre zustehe, was in Realität jedoch nicht erfüllt worden sei, sagt Tieu. Stattdessen lebten drei bis vier Personen in einem 16 Quadratmeter Zimmer.

Unabhängig davon, ob sie verheiratet waren oder nicht, wurden Paare oftmals in verschiedene Unterkünfte aufgeteilt, und es war ihnen untersagt, gemeinsam zu leben. „Manchmal versetzte man Ehepaare für die Arbeit sogar in verschiedene Städte“, erzählt Sung Tieu. Wurde eine Vertragsarbeiterin schwanger, konnte das nur zweierlei bedeuten: Ausreise oder Abtreibung. Aus Angst, wieder zurück in ihre Heimat geschickt zu werden, trieben viele Frauen ab, sagt Tieu.

Hier lebte die größte vietnamesische Community.

Die Behandlung der vietnamesischen Ver­trags­ar­bei­te­r*in­nen habe oft an die von Bürgern zweiter Klasse erinnert, was auch an der Sprachbarriere gelegen habe. Ab 1987 wurden nur einmonatige Sprachkurse angeboten, wodurch die Menschen sich selbst überlassen blieben und Barrieren zu den Einheimischen hoch gehalten wurden.

Nicht nur das Privatleben, auch das Arbeitsleben war Sache des Staates. Viele der Ar­bei­te­r*in­nen arbeiteten in Volkseigenen Betrieben wie dem Fleischkombinat, dem DDR-Stern-Radio-Berlin, Berliner Lederwaren oder dem Funkwerk Köpenick. Die meisten der Arbeitsverträge wurden nach der Wende aufgelöst, was den ausländischen Arbeitenden nicht nur die Existenzgrundlage, sondern auch den Wohnheimplatz entzog und somit das Bleiberecht. Von jetzt auf gleich fielen die Ver­trags­ar­bei­te­r*in­nen in einen ungeklärten und perspektivlosen Status.

Die Bundesregierung versuchte, sie durch Rückführungsabkommen zurückzuschicken. „Im Fall von Vietnam war es so, dass die Regierung anfänglich ihre Bür­ge­r*in­nen nicht zurückhaben wollte“, erzählt Tieu. Es gab eine Art Abfindung und ein Flugticket, verbunden mit der Bitte, Deutschland sofort zu verlassen. In ihrer Not reisten viele Ver­trags­ar­bei­te­r*in­nen zurück, obwohl in vielen dieser Länder Krieg, Armut und Notstände herrschten. Andere, wie Tieus Vater, blieben jedoch.

Tieu führt die Gruppe in ihr altes Zuhause im zweiten Stock, im Block G. Erst nach dem Mauerfall lebte die Künstlerin mit ihrer Mutter und ihrer Freundin von 1994 bis 1997 in der Gehrenseestraße. Nach der Wende wurde der Wohnkomplex privatisiert. Die Plattenbauten entwickelten in ihrer Notlage ein eigenes Ökosystem: Die Be­woh­ne­r*in­nen eröffneten informelle Restaurants in ihren Wohnungen, verkauften unverzollte Zigaretten oder errichteten unweit Blumen- oder Lebenmittelstände. Selbstorganisiert, gemeinsam mit gemeinnützigen Vereinen, kümmerten sie sich um Kinderbetreuung, Übersetzungshilfe und andere alltägliche Strukturen.

Es war „Mainstream“ gewesen, gegen Ausländer zu wettern

Die Regel, um in Deutschland bleiben zu dürfen, beschreibt Tieu so: „Wenn ihr euch selbst ernähren könnt, werdet ihr geduldet.“ Das Problem: Die Mieten stiegen um ein Vielfaches, statt der 10 DDR-Mark für ein Bett im Viererzimmer waren es im Jahr 1992 schon 280 Deutsche Mark für ein Einzelzimmer. Um die 2000er kostete eine Wohnung in der Gehrenseestraße dann sogar über 1.000 Deutsche Mark.

Vorbei an Sperrmüll geht die Gruppe am Ende eines langen Ganges in das 16 Quadrat­meter große ehemalige Zimmer der Künstlerin. Als kleines Kind spielte Tieu Kartenspiele mit einem Freund aus der Wohnung gegenüber durch eine Türschlitz hindurch. Aus Angst der Mutter, der Sohn könne ihr weggenommen werden, habe er tagsüber nicht das Zimmer verlassen dürfen, erzählt sie. Also kommunizierten die beiden meistens durch einen kleinen Spalt.

Damals sei es Gang und Gäbe gewesen, gegen Ausländer zu wettern, sagt Tieu. Die rassistischen Anfeindungen gipfelten schließlich in dem Pogrom von Rostock-Lichtenhagen, als 1992 ehemalige vietnamesische Ver­trags­ar­­bei­te­r*in­nen um ihr Leben fürchten mussten, weil die zentrale Aufnahmestelle für Asyl­be­wer­be­r*in­nen angegriffen wurde. Die Polizei stand untätig daneben. Im selben Jahr wurde der vietnamesische Vertragsar­beiter Nguyễn Văn Tú in Marzahn von einem Neonazi erstochen.

Die Erinnerungen und Geschichten, die Tieu in der Führung vermittelt, sind auch integraler Bestandteil ihrer künstlerischen Praxis, die von den Themen Migration, Exil und rechtliche Grauzonen durchdrungen ist. Ihre eigenen Erfahrungen verwebt die Künstlerin dabei mit Archivrecherche in raumgreifenden Installationen.

Auch ihre Vergangenheit hat die Künstlerin verewigt

Auch ihre Vergangenheit in der Gehrenseestraße hat die Künstlerin verewigt. Ihre Videoarbeit „One Thousand Times“ ist derzeit im Haus der Kulturen der Welt in der Ausstellung „Echos der Bundesländer“ zu sehen. Die Kamera tastet behutsam und ruhig die Fassade des Hauses ab, in dem Tieu lebte. Das saftige Grün der Bäume steht im kühlen Kontrast zum Beton der Wände. Durch die Treppenhäuser strahlt der blaue Himmel hindurch.

Die Monotonie der Architektur wird durch den Efeu gebrochen, der sich an einigen Fassaden emporwindet und in die Wohnungen eindringt, die keine Fenster oder Türen mehr haben. Die Kamera schwenkt zu den pastellgelben bewohnten Plattenbauten auf der anderen Straßenseite, dem deutschen Pendant zu den Unterkünften der Vertragsarbeiter*innen. Das Video endet, ebenso wie die Führung, in Tieus ehemaliger Wohnung. Auch wenn diese eines Tages nicht mehr da sein wird, durch ihre Arbeit hat die Künstlerin die Erinnerungen an die Geschichte der Ver­trags­ar­bei­te­r*in­nen in der Gehrenseestraße vor dem Abriss bewahrt.

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