Erica ZingherGrauzone
: Wann endet der Albtraum für die israelischen Geiseln?

Foto: Stefanie Loos

Es ist ein Verzweiflungsakt, den die Angehörigen von fünf in Gaza verbliebenen israelischen Geiseln in dieser Woche begingen. Mit ihrem Einverständnis veröffentlichte das israelische Fernsehen Aufnahmen, die die Entführung der Frauen von der Militärbasis Nahal Oz durch Hamas-Terroristen am 7. Oktober zeigen. Die jungen Frauen, 19 und 20 Jahre alt, sitzen in ihren Pyjamas, gefesselt und blutüberströmt, an eine Wand gelehnt. Umringt sind sie von unzähligen Männern, Terroristen, die sie gefangen halten und später in einem Jeep nach Gaza verschleppen.

Die abscheuliche Gewalt ist in dem Video sicht- und hörbar, in den Worten der Terroristen, wie sie die Frauen beschimpfen, ihnen sagen, dass sie schön sind, und an ihren Handlungen, wie sie an ihnen zerren, als wären sie Vieh, und andere, offenbar bewusstlos oder schon tot, einfach liegen lassen.

Drei Minuten und zehn Sekunden dauert das Video. Das, was wir als Zu­schaue­r:in­nen sehen, ist dabei nur ein Bruchteil dessen, was die jungen Frauen an Gewalt und Erniedrigung erlebt haben – denn besonders gewalttätige Szenen wurden herausgeschnitten oder zensiert.

Wir sehen nicht, wie den jungen Frauen ihre Verletzungen zugefügt worden sind. Wir sehen nicht die toten Körper ihrer Freundinnen, nicht das Morden. Sexuellen Missbrauch, mögliche Vergewaltigungen sehen wir auch nicht, aber all dies wird angedeutet, in der Art, wie die Männer über die Frauen sprechen. Doch auch wenn wir es nicht sehen, kennen wir die Berichte, die Beweise: Untersuchungsergebnisse der Ermordeten, Erzählungen von befreiten Geiseln, von Überlebenden des 7. Oktobers, Videoaufnahmen, die verletzte Frauen zeigen.

Dennoch kann kein Video der Welt annähernd nachvollziehbar machen, was den Geiseln angetan worden ist – und was sie seit über 230 Tagen durchleben müssen. Liri Albag, Karina Ariev, Agam Berger, Daniela Gilboa, Naama Levy: So heißen die Frauen, deren angstverzerrte, verletzte Gesichter seit wenigen Tagen durch die Medien gehen. Sie sind fünf von rund 130, vielleicht auch nur noch 50 lebenden Geiseln, die noch in Gaza festgehalten werden. Niemand weiß, wie viele bereits umgebracht worden oder im Krieg gestorben sind, ob diese fünf Frauen noch am Leben sind.

Irgendwann ist jeder Schock vorbei, Gesichter wenden sich ab vom Grauen und anderem zu, widmen sich dem eigenen Alltag, während für die Angehörigen und Freunde der Verschleppten kein Alltag mehr möglich ist, weil das Trauma und die Angst um die eigene Tochter, den Vater, die Geschwister oder Großeltern alles dominiert. Die Welt vergisst – diesen Eindruck haben die Familien der Geiseln, und auch ich teile diesen nach fast acht Monaten, die seit dem Terrorakt vergangen sind.

Hier ­erscheinen zwei Kolumnen im Wechsel. Nächste Woche: Geraschel von Doris Akrap

Ich bin bis heute davon überzeugt, dass die Welt den Schrecken sehen muss. Sie darf nicht wegschauen. Die Opfer der mörderischen Ereignisse vom 7. Oktober haben Gesichter, Namen, Geschichten. Und doch schmerzt es mich, dass nur die Verbreitung von Bildern bestialischer Gewalt es vermag aufzurütteln, in Erinnerung zu rufen, um was es geht: das Leben, die Unversehrtheit von Unschuldigen.

Die menschenverachtende Strategie der Terrororganisation Hamas ist aufgegangen: Sie konnten morden und verschleppen, ihre Taten stolz in die Welt streamen, sie später leugnen, Juden weltweit damit traumatisieren, ihre eigene Zivilbevölkerung als lebende Schutzschilde missbrauchen und weltweit Sympathie und Unterstützung für die von ihnen begangenen Massaker ernten.

Die Welt vergisst – diesen Eindruck haben die Familien

Jede Tat, die unwidersprochen bleibt, die umgedeutet wird zu etwas Heroischem, einem legitimen Widerstand, verschiebt eine zivilisatorische Grenze. Es liegt in unser aller Verantwortung, diese Grenze zu verteidigen. Die Angst in den Gesichtern der Geiseln sollte uns eine Erinnerung daran sein, was auf dem Spiel steht.