Standhaft bleiben

Hannah Neumann sitzt für die Grünen im Europäischen Parlament. Hier erzählt sie, wie sie Anfeindungen im Netz, im Supermarkt und auf dem Spielplatz erlebt

Digitale Shitstorms sind Alltag. Sie sind immer sexistisch, persönlich und primitiv. Die AfD löste einmal online mit einem Bild von mir und der Botschaft: „diese Frau will 1.000 IS-Terroristen nach Deutschland holen – sag ihr Deine Meinung“ eine Flut brutaler digitaler Bedrohung gegen mich aus.

Mit solchen Attacken wollen Rechtsextreme Frauen entmutigen und mundtot machen. Wir sollen ruhig sein, kochen und kuschen.

Das Private wird öffentlich

Ich wusste sehr genau, worauf ich mich einlasse, als ich mich 2016 entschieden habe, Politikerin zu werden. Ich wusste, was für Beleidigungen und Bedrohungen auf mich zukommen könnten. Und habe mich bewusst dafür entschieden, diesen Weg trotzdem zu gehen.

Wenn dein Gesicht auf Plakaten im ganzen Bezirk hängt, kennen dich alle. Viele sagen schöne und ermutigende Dinge. Wer will, kann dich aber auch auf dem Weg zum Supermarkt beschimpfen. Oder auf dem Spielplatz. Das Private ist dann öffentlich, ob du es gerade willst oder nicht. Was mir immer wieder zu schaffen macht, ist, dass sie ganz bewusst mein Umfeld mit reinziehen. Meine Nachbarn, meine Kinder.

Im letzten Europawahlkampf zum Beispiel. An der Fassade unseres Mehrfamilienhauses waren Plakate mit der Botschaft zum Wahlboykott angebracht worden. In der ganzen Straße nur an unserem Haus. Wie eine Markierung. Ich hatte die Polizei gerufen, um den Vorfall dokumentieren zu lassen. Der Beamte meinte allerdings, dass die Plakate auch angebracht worden sein könnten, weil unser Haus das hellste in der Straße sei. Auf der Bedrohungsskala habe ich mich mittlerweile „hochgearbeitet“. Die Polizei reagiert nun anders. Doch an dem Tag wurde mir wieder bewusst: Jetzt trifft der Hass auch meine Nachbarn. Die sich nie entschieden haben, diesen Weg zu gehen.

Zusammen gegen den Hass

Schön war zu sehen, dass wir zusammenstanden, gelebte Solidarität. Die hilft gegen Hass. Wir haben Matthias Ecke auch einen riesengroßen Blumenstrauß gesendet. Und die Demos waren gut. Da halten wir zusammen, Parteizugehörigkeit ist hier egal.

Weil ich all das wusste, traf ich meine Entscheidung, öffentlich in die Politik zu gehen, nicht allein. Mit meinem Mann wog ich das lange ab. Und irgendwann platzte der Satz aus mir raus: „Wenn ich deswegen nicht antrete, dann haben die schon gewonnen.“ „Du hast dich gerade entschieden“, meinte mein Mann. Wir haben dann versucht, die Kinder auf dem Weg mitzunehmen, kindgerecht. Wie traurig, dass man das muss.

Ich fahre gerade durch Mecklenburg-Vorpommern und mache Haustürwahlkampf. Manchmal bin ich allein unterwegs. Ich scanne die Tankstelle ab, bevor ich aussteige. Mein Auto mit Logo bekleben? Das traue ich mich schon gar nicht mehr. Der Hass, er wirkt und nimmt uns Sichtbarkeit.

„Ich kann jeden verstehen, der sich dem Hass nicht mehr aussetzen will oder kann“

Es ist zunehmend absurd, welchem Hass, welcher Gewalt ich mich aussetze. Ich kann jeden verstehen, der das nicht mehr will oder kann. Und zugleich wäre es fatal, wenn wir aufhören würden. Dann würde dieses Land ganz sicher wegkippen. „So hat es damals auch angefangen“, dieser Satz von Margot Friedländer begleitet mich oft.

Als Friedens- und Konfliktforscherin habe ich so viele Menschen getroffen, die trotz viel größerer Gefahr – von Folter oder Tod – für Demokratie kämpfen, standhaft bleiben. Die haben mich immer inspiriert. Und jetzt? Kann ich doch nicht kneifen, wo es hier ungemütlich wird. Jetzt erst recht – auch das höre ich immer öfter von Kolleginnen und Kollegen, dieser Tage.

Protokoll: Andreas Speit