„Anora“ und „Marcello mio“ in Cannes: Mit Papas Schnurrbart

In Christophe Honorés „Marcello mio“ schlüpft Chiara Mastroianni in die Rolle ihres Vaters. Ein anderer Vater aber macht Probleme in Cannes.

Über die Schulter einer Person blickt man auf einen Spiegel und sieht einen frisch geklebten Schnurrbart in ihrem Gesicht

Marcello beziehungsweise Chiara Mastroianni in „Marcello mio“ Foto: Festival de Cannes

Einblicke in ärmere Lebensverhältnisse gab es in Cannes bisher einige im Wettbewerb. Da ist die Sozialbaurealität von Andrea Arnolds „Bird“ ebenso wie von Agathe Riedingers „Dia­mant brut“ oder die Näherin in Magnus von Horns „The Girl with the Needle“. Auch die Familie des Protagonisten von „Three Kilometres to the End of the World“ von Emanuel Pârvu lebt in ständiger Sorge um das Geld.

Mit Sean Baker ist ein Regisseur im Wettbewerb vertreten, der sich in seinen bisherigen Filmen wie „Tangerine L. A.“ (2015), „The Florida Project“ (2017) und „Red Rocket“ (2021) auf das Leben in unterprivilegierten Verhältnissen konzentriert hat. Auch Sexarbeit ist eine seiner thematischen Konstanten. In seiner Komödie „Anora“, mit der er in Cannes antritt, ist die Hauptfigur ebenfalls eine Prostituierte.

Anora, gespielt von Mikey Madison, lebt und arbeitet in Brooklyn. Da ihre Familie aus Russland stammt und sie die Sprache einigermaßen beherrscht, muss sie oft bei russischen Kunden aushelfen. Einer von ihnen ist Ivan, ein charmanter, zügelloser Mann Anfang zwanzig. Mit seiner naiven Begeisterungsfähigkeit weckt er Gefühle in Anora, die alle schlicht Ani nennen.

Las Vegas? Heirat!

Anora darf Ivan bald darauf zu Hause „besuchen“, in einer gigantischen anonymen Villa, die er mit dem Hauspersonal allein zu bewohnen scheint. Sie wird zu seiner Silvesterparty geladen, fliegt schließlich mit ihm und ein paar seiner Freunde nach Las Vegas. Dort kündigt er ihr zunächst an, dass er nach Russland zu seinen Eltern zurückkehren muss. Plötzlich steht eine Green Card durch Heirat als Möglichkeit im Raum, und Ivan macht ihr spontan einen Hochzeitsantrag. Sie heiraten noch in der Nacht.

„Anora“ hat etwas von einem Märchen nach Aschenputtelmuster, in dem allerdings die sofortige Entzauberung der Aufstiegsfantasie als Pointe dient. Denn die Oligarchenfamilie von Ivan ist erwartungsgemäß wenig begeistert, als sie von der jüngsten Eskapade ihres Sohns erfährt. Der Vater, Nikolai Sacharow, teilt seinen Namen übrigens mit einem sowjetischen Serienmörder.

Wie Anora anschließend erst von den Handlangern der Familie drangsaliert und dann in eine Verfolgungsjagd nach dem flüchtigen Ivan verwickelt wird, sorgt für reichlich Situationskomik, vor allem dank des überzeugend ­temperamentvollen Einsatzes von ­Mikey ­Madison.

Eine preiswürdige Darstellung kann man zudem in Christophe Honorés autofiktionaler Fantasie „Marcello mio“ erleben. Darin schlüpft Chiara Mastroianni in die Rolle ihres verstorbenen Vaters Marcello Mastroianni. Sie ist damit die einzige Protagonistin, die nicht sich selbst spielt. Ihre Mutter Catherine Deneuve tritt als ihre Mutter auf, und Mastroiannis ehemalige Partner Melvil Poupaud und Benjamin Biolay sind ebenfalls als sie selbst vertreten.

Zweite Chance

Chiara Mastroianni entscheidet sich als sie selbst zu Beginn des Films, sich ihrem Vater äußerlich anzuverwandeln und fortan dessen Namen zu tragen. Ihr Umfeld reagiert teils verstört, teils hilflos. Bloß der Schauspieler Fabrice Luchini nimmt die Gelegenheit wahr, seine verpasste Freundschaft mit Marcello Mastroi­anni nachzuholen.

Wie Honoré und seine Besetzung mit dieser Prämisse ernst machen, hat etwas luftig Verspieltes, manchmal auch Bemühtes. Als Trauerarbeit allemal eigenwillig. Und wie Chiara Mastroi­anni diese Identitätsverschiebung unbeirrt maskenhaft durchhält, ist virtuos.

Einmal zahlen
.

Fehler auf taz.de entdeckt?

Wir freuen uns über eine Mail an fehlerhinweis@taz.de!

Inhaltliches Feedback?

Gerne als Leser*innenkommentar unter dem Text auf taz.de oder über das Kontaktformular.

Bitte registrieren Sie sich und halten Sie sich an unsere Netiquette.

Haben Sie Probleme beim Kommentieren oder Registrieren?

Dann mailen Sie uns bitte an kommune@taz.de.