Russischer Vormarsch auf Region Charkiw: Verjagt aus ihren Häusern
Die russische Armee ist ins Gebiet Charkiw einmarschiert. Freiwillige und Soldaten evakuieren die Dorfbewohner und bringen sie in Sicherheit.
„Ich denke, wir halten durch“, sagt Lidija Iwanowna. Die 83 Jahre alte Frau kommt aus dem Dorf Wowtschanski Chutory nördlich von Charkiw, gerade einmal zwei Kilometer von der russischen Grenze entfernt. „Ich selbst bin schon alt. Aber unsere jungen Leute – die werden durchhalten. Ukrainer sind fleißig und stark“, sagt sie der taz. Lidija Iwanowna redet sich Mut zu. Dabei musste sie selbst bereits ihr Dorf verlassen. Am frühen Freitagmorgen marschierte die russische Armee erneut im Gebiet Charkiw ein und zerstörte dabei alle Dörfer, durch die sie kam.
Iwanowna geht langsam über den Schulhof, wo sie Zuflucht gefunden hat. Mit beiden Händen hält sie einen Pappteller mit Grütze, den sie von freiwilligen Helfern bekommen hat. Die Grütze bringt sie ihrem „Leidensgenossen“, wie sie ihn nennt, einem 86 Jahre alten Mann, der aus Wowtschansk evakuiert wurde. Traurig beginnt er zu essen.
Die russische Armee hat eine neue Frontlinie nördlich von Charkiw eröffnet. Wer kann, flieht. Freiwillige Helfer und Polizisten helfen ihnen, nach Charkiw zu gelangen, zunächst in ein Regionalzentrum für Binnenflüchtlinge. Dort werden sie mit dem Notwendigsten versorgt, bevor sie auf Wohnheime in der Stadt oder sichere Gegenden außerhalb gebracht werden. Allein an zwei Tagen sind 3.000 Menschen in einer ehemaligen Schule am Stadtrand von Charkiw untergebracht worden. Es sind vor allem alte Menschen, Behinderte und kinderreiche Familien. Lidija Iwanowna ist eine von ihnen.
Lidija Iwanowna
Der Schulhof erinnert dieser Tage an einen großen Bahnhof. Überall sitzen Menschen, viele einfach auf dem Rasen oder auf Kinderstühlen, mit dem, was sie vor den russischen Bombardierungen noch haben retten können. Lidija Iwanowna konnte nur eine kleine Tasche mit persönlichen Dingen und ihren kleinen Hund mitnehmen. Als der Beschuss losging, holte ihr Neffe, ein Polizist, sie am Samstagmorgen ab. Zum Packen habe sie nur zwei Minuten Zeit gehabt.
83 Jahre alt und obdachlos
„Ich hatte Angst“, erzählt Iwanowa weiter. Vor den Kugeln, den Bomben. „Gott sei Dank sind wir noch rausgekommen. Von unserem Dorf ist nichts mehr übrig. Sie haben alles zerstört.“ Warum weiter Bomben abgeworfen würden, versteht sie nicht – es sei doch gar nichts mehr da. „Wer weiß schon, warum sie uns all das antun. Früher haben sie hier bei uns in Wowtschansk eingekauft: Kartoffeln, Gurken. Sie haben selber nichts.“ Dann bricht die Bitterkeit aus ihr heraus: „Ich weiß nicht, wie ich sie nennen soll. Es sind keine Menschen!“ Iwanowa ist 83 Jahre alt und obdachlos.
Sie ist nicht die Einzige, die die Fragen der Journalisten bereitwillig beantwortet. Die Menschen sind verstört, haben Angst, aber offenbar auch die Hoffnung, dass es ihnen hilft, wenn sie ihre Geschichten erzählen. Und sie erzählen sie alle ausnahmslos auf Ukrainisch. Trotz der geografischen Nähe zu Russland, trotz all der gegenteiligen Behauptungen der russischen Propaganda.
Die 44-jährige Tamara wurde mit ihren drei Kindern und ihrer 76-jährigen Mutter von Freiwilligen aus dem Dorf Bilyj Kolodjas evakuiert, etwa 15 Kilometer von der Grenze entfernt. 48 Stunden lang habe sie nicht geschlafen, erzählt sie. Seit Freitag, als die russischen Soldaten erneut ins Gebiet Charkiw einmarschierten, steht das Dorf unter Dauerbombardement. „Es ist jetzt schlimmer als 2022. Die Flugzeuge, die Zerstörungen.“ Vor allem die Kinder seien total verängstigt. „Meine Tochter kann gar nichts mehr sagen, sie muss dann immer sofort weinen“, sagt Tamara traurig. Mitnehmen konnte die Familie nur ein paar persönliche Dinge und die drei Katzen.
Unerträgliche Ruhe
Im Schulgebäude lassen sich die Menschen registrieren. Es ist sehr voll, die Luft ist schlecht. Die meisten Menschen hier sind über 70, viele gehen an Krücken. Niemand drängelt oder schimpft. Alle warten ruhig darauf, dass sie an der Reihe sind. Einige der alten Menschen sitzen am Rand und weinen. Psychologen von Freiwilligenorganisationen und Rettungskräfte versuchen, sie zumindest ein bisschen zu unterstützen.
Eine alte Frau im Rollstuhl stellt sich als „Oma Lena“ vor. Die 85-Jährige hat einen hellen, klaren Blick und spricht ruhig und unaufgeregt, wie es nur alte Menschen mit viel Lebenserfahrung können. Sie kommt aus der Stadt Wowtschansk. Seit einem Oberschenkelhalsbruch vor drei Jahren ist sie auf den Rollstuhl angewiesen. „Die ganze Nacht über wurde unser Dorf beschossen“, erzählt sie. „Heute Morgen gab es ganz in der Nähe meines Hofes dann zwei Explosionen. Gerade, als ich ins Auto stieg.“
„Ich habe mein Hündchen zurückgelassen und mein Kätzchen“, erzählt sie weiter. „Aber ich musste gehen, denn so einen Tod möchte man nicht sterben. Was haben wir ihnen getan, dass sie sich uns gegenüber so verhalten? Wie viele Kinder, wie viele Soldaten sind schon gestorben?“, fragt Oma Lena mit einer Ruhe, die man kaum erträgt. Es wäre gefährlich, sagt sie weiter, zu denken, man könne einfach abwarten, bis sich die Lage wieder beruhigt.
Niemand will unter russischer Besatzung leben
Auch der 52-jährige Sergei aus dem Dorf Bilyj Kolodjas erzählt, dass die russische Armee Bomben auf Wohnviertel in seinem Dorf abgeworfen hat. Fast alle Häuser in seiner Straße seien zerstört worden. „Der Beschuss war sehr, sehr stark. 2022 und 2023 war es bei uns im Vergleich dazu ruhig. Die halbe Straße wurde durch eine gelenkte Fliegerbombe zerstört“, erzählt er.
Alle, mit denen die taz spricht, wollen nach Hause zurück, allerdings nur, wenn die Ukraine den Krieg gewinnt. Niemand will unter russischer Besatzung leben.
Zur gleichen Zeit bringt die russische Armee Nachschub an Munition und gepanzerten Fahrzeugen an die Front, um ihren Brückenkopf zu erweitern. Währenddessen versucht das ukrainische Militär, den Vormarsch der russischen Besatzungsarmee in der Nähe der Dörfer Pylna, Striletscha und Boryssiwka im Norden des Gebietes Charkiw zu stoppen. Dort finden erbitterte Kämpfe statt. In der Stadt Charkiw ist es derzeit ruhig. Es ist wahrscheinlich die Ruhe vor dem Sturm.
Aus dem Russischen Gaby Coldewey
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