Endlich neue Feiertage: Fortschritt zelebrieren
Auf den Tag der pünktlichen Bahn! Im Jahr 2124 gibt es für Erfolge des gesellschaftlichen Wandels viele neue Feiertage, die alle glücklich machen.
M anchmal, wenn Felix mich aus dem Jahr 2124 besucht, zappt er durch das lineare Fernsehen. Meist sitzt er dann auf der Couch und lacht oder schüttelt staunend den Kopf über all die in seinen Augen historischen Persönlichkeiten. Heute bleibt er bei einem Interview mit Markus Söder hängen. „Das ist ein bisschen so, als würdest du ein Interview mit Heinrich Held angucken“, sagt er, ohne den Blick abzuwenden.
„Wer ist denn Heinrich Held?“
„Bayerischer Ministerpräsident anno 1924.“
Ich nicke und öffne schnell den Wikipedia-Artikel. Aber Felix ist gedanklich schon weiter: „Es ist mir ein Rätsel, wie man sich allen Ernstes als Vertreter des Wertkonservativismus inszenieren kann. Wertkonservativ zu sein bedeutet doch, in einer sich ständig ändernden Welt immer an dem festzuhalten, was der Definition nach gerade überholt ist. Und das Ganze, indem man die Gründe für die Veränderung ignoriert und die alten Werte verteidigt oder verklärt, bis es irgendwann gesellschaftlich oder juristisch nicht mehr tragbar ist. Und am Ende wird behauptet, in Wirklichkeit schon immer die neuen Werte verteidigt zu haben. Das ist doch lächerlich.“
Dieser Text stammt aus der wochentaz. Unserer Wochenzeitung von links! In der wochentaz geht es jede Woche um die Welt, wie sie ist – und wie sie sein könnte. Eine linke Wochenzeitung mit Stimme, Haltung und dem besonderen taz-Blick auf die Welt. Jeden Samstag neu am Kiosk und natürlich im Abo.
„Aber offensichtlich gibt es eine Menge Leute, denen das gefällt. Die Mächtigen wollen ihre Privilegien nicht aufgeben. Und die Benachteiligten hoffen, so auch was vom Kuchen abzubekommen oder wenigstens nicht noch schlechter gestellt zu werden. Kaum jemand glaubt, dass Veränderung eine gute Sache ist“, sage ich und bestelle beim Lieferservice die Pizza, die ich immer für uns bestelle, wenn keine Zeit zum Kochen ist. Da fällt mir auf, dass Felix heute besonders schick ist.
„Gibt’s was zu feiern?“, frage ich.
„Noch nicht. Aber in der Zukunft.“
„Oje, das Ende des Dritten Weltkriegs?“, frage ich bang.
„Nein! In hundert Jahren ist gerade Tag des guten Mobilfunknetzes!“
„Ist das ein Feiertag oder ein Trauertag?“
Gute und schlechte Ideen feiern
„Ein Feiertag natürlich!“, sagt Felix. „Wir haben die Feiertage, mit denen sich niemand identifizieren kann, abgeschafft und durch neue ersetzt, die alle glücklich machen. Nächste Woche ist zum Beispiel Tag der pünktlichen Bahn. In einem Monat dann der Tag zu Ehren der konstruktiven Diskussion und im August begehen wir den Tag der Steuergerechtigkeit: Da gibt es eine Lotterie, bei der man die Hälfte dieses Geldes gewinnen kann, das die Steuerfahndung den Steuersündern abgeknöpft hat.
Auch sehr beliebt ist der Welttag der schlechten Idee. An diesem Tag sucht sich jeder seine Lieblingsidee aus der Menschheitsgeschichte heraus, die sich im Nachhinein als Irrtum herausgestellt hat, und versucht sie einen Tag lang vehement zu verteidigen. Das macht viel Spaß und hilft dabei, Bullshit-Argumente in Zukunft schneller zu erkennen. Außerdem haben die Kinder dann nicht mehr so große Angst, in der Schule Fehler zu machen.
Mein absoluter Lieblingstag ist aber der Tag des guten Ratschlags. Einmal im Leben darf man die intertemporalen Gesetze des Zeitreisens übertreten und an diesem Tag in die Vergangenheit reisen, um sich selbst einen guten Rat zu geben. Das wird online gestreamt, herzzerreißende Szenen, kann ich dir sagen.“
„Oh, und welchen Ratschlag wirst du dir geben?“
„Weiß ich noch nicht. Ich warte noch darauf, dass mein zukünftiges Ich es mir verrät.“
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