E-Sport-Verein Eintracht Spandau: Wer wird Deutscher Meister?
Die E-Sport-Branche boomt. Auch der Berliner Verein Eintracht Spandau will nach oben, gar auf internationaler Bühne angreifen. Kann das gelingen?
D ie Stimmung ist gut im „Spandauer Bock“, einer urigen Kneipe mitten in der Altstadt des Berliner Randbezirks. Es ist ein regnerischer Mittwochabend, einige Fans des Vereins Eintracht Spandau stehen vor dem Lokal und grüßen sich. Für ihren Club geht es heute um viel.
Die Saison lief durchwachsen, mit einer Prise Glück landete das Team unter den besten fünf in der Tabelle und damit in den Play-offs. Hier geht es nun um die Meisterschaft.
An Unterstützung mangelt es nicht: In einem eigens für den Verein reservierten Hinterzimmer drängen sich knapp 50 Leute, viele in Trikots, manche mit Schals und anderen Devotionalien. Auch der Liedermacher Lukas-Ralf Ligmann – Künstlername: Lukas Mückenfett – ist vor Ort. Er hat den Song „Spandau“ geschrieben, der zur Vereinshymne avancierte. Auf seiner Akustikgitarre wird er das Lied heute mehrfach spielen, und jedes Mal stimmt ein beherzter Chor aus überwiegend jungen Männern mit ein: „Wo die Havel kreuzt die Spree, von Berlin aus jwd, wo die Zitadelle rockt, und die Eintracht uns lockt, da ist Spandau, da sind wir, Spandau, Spandau, wir lieben dir.“
Dass man hier vom Berliner Zentrum aus gesehen tatsächlich „jwd“, also „janz weit draußen“ ist, zeigt sich schon an den Getränkepreisen: Das Pils vom Fass für unter vier Euro fließt reichlich, ansonsten gibt es Cola und Alkoholfreies, hier und da eine Zigarette. Manche Blicke wandern auf den großen Bildschirm in einer oberen Ecke des Raumes.
Gleich geht das Spiel los. Zu sehen gibt es aber weder Fußball, Handball noch Basketball – nein, überhaupt kein Ball wird hier gleich die Atmosphäre bestimmen. Vielmehr sitzen die Spieler des Vereins nur einige hundert Meter weiter in einem Bürokomplex mit ihrem Gaming-Equipment vor ihren Computern. Gezeigt wird im „Bock“ ein E-Sport-Turnier.
100 Millionen Zuschauer*innen
Gespielt wird „League of Legends“. Es ist ein Multiplayer-Echtzeitstrategiespiel mit Fantasywelt-Thematik, das mit etlichen Ligen weltweit zu den meistgespielten Computergames überhaupt zählt.
Die Zuschauerzahlen für die Weltmeisterschaften können sich mit analogen Profisport-Ligen messen: Das Finale der League-of-Legends-WM des Jahres 2019 verfolgten weltweit rund 100 Millionen Zuschauer*innen. Eintracht Spandau spielt in der Prime League, der höchsten deutschsprachigen Liga für League of Legends.
Der Verein entstand als gemeinsames Unterfangen von Jung von Matt Nerd, einer auf Gaming spezialisierten Subfirma der Hamburger Werbeagentur, und des Marketingunternehmens „Instinct3“. Mitgründer von Instinct3 ist der Webvideoproduzent und Unternehmer Maximilian Knabe, der im Netz als „HandOfBlood“ oder kurz „Hänno“ auftritt.
Knabe hat selbst lange League of Legends gespielt, fungiert mit seiner Reichweite nunmehr aber als eine Art Aushängeschild des Vereins. Er kommentiert die Spiele auf der Streaming-Plattform Twitch, gibt Interviews, füllt seine Social-Media-Kanäle mit Inhalten von Eintracht Spandau.
2021 stellte er den Verein erstmals auf seinem Yotube-Kanal mit 2,71 Millionen Abonnent*innen vor: In seiner Rolle als fiktiver Vereinspräsident im schlecht sitzenden karierten Anzug, der Pressefragen schnodderig abwehrt und den Anglizismus „E-Sport“ so deutsch wie möglich ausspricht.
Ein wenig Ironie und viel Professionalität
In seiner Figur spiegelt sich der Spagat, der Eintracht Spandau auszeichnet. Auf den ersten Blick wirkt der Club wie ein Entertainmentprojekt – ein Gamer-„Clan“, wie man vor einigen Jahren zu sagen pflegte, der unernst persifliert, was sonst an Ernst nicht arm ist: traditionelle deutsche Vereinskultur.
Hinter dem kumpeligen, manchmal bewusst dilettantischen Gebaren steckt allerdings eine hohe Professionalisierung und erkennbar viel Arbeit, vor allem Öffentlichkeitsarbeit.
Und die wirkt. Drei Jahre nach der Gründung hat der Verein ein Team, einen Coach, Sponsoren, eine eigene Hymne, ein Logo, eine Vereinskneipe, Merchandise – und natürlich Fans. Die erwarten von ihrem Verein nun, dass sich der öffentliche in sportlichen Erfolg übersetzt. Ein Sieg in der Prime League wäre der erste Titel des Vereins.
Die in diesem Jahr von der Techniker Krankenkasse gesponserte Liga schüttet insgesamt 20.000 Euro Preisgeld aus, für den ersten Platz gibt es 8.000 Euro. Viel wichtiger aber: Möglich wäre auch eine Qualifizierung für die internationalen Meisterschaften wie die EMEA Masters, bei der die besten Teams aus 13 europäischen Ligen gegeneinander antreten. Preisgeld für den Erstplatzierten hier: 20.000 Euro. Das gelang dem Verein in den vergangenen Jahren bislang nur einmal, 2021. Die aktuelle Saison lief bislang schleppend.
Ein Blick zurück. Dezember 2023. Dutzende kleine Dosen koffeinhaltiger Limonade stehen sauber nebeneinander aufgereiht an der Wand der Berliner Veranstaltungshalle Velodrom. Mehrere hundert Meter lang ist die Schlange, hier warten vor allem junge Menschen zwischen 18 und Mitte 30 in der Kälte auf ihren Einlass.
Das Event „Red Bull League of Its Own“ war innerhalb von drei Stunden komplett ausverkauft, die Tickets kosten 30 Euro das Stück. Einen Energy-Drink wird man gut gebrauchen können: Es ist 12 Uhr mittags, und das, was hier gleich vor 7.000 Besucher*innen passieren wird, soll bis mindestens 23 Uhr dauern.
Und immer wieder: „Wo die Havel kreuzt die Spree …“
An der Schlange vorbei zieht ein kleiner Trupp mit braun-blauen Trikots, Schals und Weihnachtsmützen. Einer hat ein Megafon dabei und ruft die Männer dazu auf, ihm zum VIP-Eingang zu folgen. Die Gruppe stimmt einen Gesang an: „Wo die Havel kreuzt die Spree …“
Das Turnier im Velodrom ist kein Ligaspiel, vielmehr handelt es sich um eine Art Eventmatch mit Promifaktor. Eintracht Spandau hat aber trotzdem großes Interesse an einem Erfolg. Der Star des Abends ist der Südkoreaner Lee Sang-hyeok alias Faker. Mit seinem Team „T1“ wurde der 28-Jährige vier Mal Weltmeister, gewann in seiner Laufbahn insgesamt 1,2 Millionen US-Dollar Preisgeld und gilt derzeit als bester League-of-Legends-Spieler überhaupt.
Ihn einmal live spielen zu sehen, vielleicht ein Foto mit dem Champion zu ergattern, das ist das Ziel vieler an diesem Tag – nicht nur der Fans, sondern auch der konkurrierenden Spieler.
„Er ist so eine Art Lionel Messi des E-Sport, im normalen Alltag würde man nie gegen Faker spielen“, sagt Christian Baltes im Vorfeld des Turniers. Baltes spielt nicht selbst bei Eintracht Spandau, begleitet den Verein dennoch von Anfang an. Er ist Product Director und steuert unter anderem, wie der Verein sich präsentiert. Das Spiel im Velodrom habe „keinerlei sportliche Relevanz“, sagt Baltes, der PR-Effekt könnte dennoch groß sein.
Schulterblick verboten
In einem Vorausscheid spielt Eintracht Spandau gegen das Team Berlin International Gaming – ein Stadtderby. Der Gewinner darf gegen die südkoreanischen Superstars ran. Vier riesige, hochaufgelöste Bildschirme schweben über der zentralen Bühne in der Veranstaltungshalle und zeigen das Match. Darunter nehmen die je fünf Spieler eines Teams mit dem Rücken zueinander an Computern Platz.
Zwischen ihnen: drei Schiedsrichter*innen, die darauf achten, dass das umfangreiche Regelwerk eingehalten wird, dass die Teams keinen Blick auf die gegnerischen Bildschirme werfen und dass jeder allzeit seine Kopfhörer trägt. Ein einziges Wort, ein Schulterblick könnten reichen, um die gegnerische Taktik zu erahnen.
League of Legends ist ein schnelles, strategisches und komplexes Spiel. Im Profibereich spielt man in der Regel fünf gegen fünf. Das quadratische, bewaldete Spielfeld, die „Kluft“, ist diagonal in zwei Hälften unterteilt. Ziel ist es, mit Taktik und Teamarbeit in die gegnerische Basis vorzudringen und sie zu zerstören. Die Spieler*innen wählen zuerst einen von über 150 sogenannten Champions: Rollenspiel-Charaktere, vom Schwertkämpfer über eine magische Katze bis zum menschenfressenden Flussgeist, die unterschiedliche Eigenschaften und Fähigkeiten aufweisen. Zudem können sie im Lauf des Spiels mit über 200 weiteren Gegenständen ausgestattet werden, die Einfluss auf deren Verhalten haben. Zu den Charakteren gibt es Hintergrundgeschichten, für das Spiel sind sie aber weitgehend irrelevant.
Ein zentrales Element – wie einen Ball – gibt es nicht, dafür drei Haupt-Angriffslinien: eine obere („top lane“), eine mittlere („mid lane“) und eine untere („bot lane“), zusätzlich zu einer Art Libero-Position, dem „Jungler“. Spieler*innen von League of Legends spezialisieren sich in der Regel auf eine der Positionen, ganz wie im analogen Teamsport.
„Ganking“, „Cooldown“: die Sprache ist eigen
Schnell werden die Kommentator*innen atemlos beim Versuch, in einer farblich überbordenden Gleichzeitigkeit der Ereignisse das Wichtigste hervorzuheben. Sie sprechen von „Ganking“, „Ulti“, „Cooldown“. Für Außenstehende ist vieles, was sie sagen, auch unabhängig vom Englisch eine Fremdsprache, denn Spielszenen und Elemente von League of Legends haben ein eigenes Vokabular.
Dieser Text stammt aus der wochentaz. Unserer Wochenzeitung von links! In der wochentaz geht es jede Woche um die Welt, wie sie ist – und wie sie sein könnte. Eine linke Wochenzeitung mit Stimme, Haltung und dem besonderen taz-Blick auf die Welt. Jeden Samstag neu am Kiosk und natürlich im Abo.
Ein typischer Satz aus der Nachberichterstattung zum Spiel, hier vom E-Sport-Magazin Fragster, liest sich so: „Dadurch haben wir Top Laner Choi ‚Zeus‘ Woo-je mehrmals auf AD-Carrys gesehen und auch Jungler Mun ‚Oner‘ Hyeon-jun hat mit unkonventionellen Picks für unterhaltsame Games gesorgt!“
Doch trotz seiner eigentümlichen Sprache ist E-Sport längst kein nischiges Hobby mehr. Es ist ein sportliches Phänomen mit Breiten- und Proficharakteristik sowie einem wirtschaftlichen Ökosystem aus Spieler*innen, Sponsoren, Hardware-Herstellern und Medienkanälen.
Die erste deutsche E-Sport-Liga, die Electronic Sports League alias ESL, gründete sich im Jahr 2000. Gespielt wurden hier anfangs vor allem Shooter wie Counter-Strike oder Quake sowie Echtzeit-Strategiespiele wie StarCraft, mit der Zeit kamen etliche weitere kompetitive Titel dazu. Das Unternehmen aus Köln wandelte sich von einer Liga zum Veranstalter, schrieb lange rote Zahlen, wurde aber 2022 von einer saudi-arabischen Firma aufgekauft – für eine Milliarde Dollar.
Dass sich über den E-Sport eine große Zahl von Menschen erreichen und Geld verdienen lässt, haben mittlerweile viele erkannt. „Das Wirtschaftswachstum in diesem Bereich ist regelmäßig zweistellig, wovon viele andere Branchen träumen“, sagt Jana Möglich.
Weltweiter Umsatz des E-Sport-Markts:; Knapp 4 Milliarden
Sie promoviert zum Thema E-Sport an der Europa-Universität Flensburg, ist selbst ehemalige E-Sportlerin. „Die Events werden immer größer, die Spieleranzahl wird immer größer, die Preisgelder immer immenser“, sagt sie.
Deutschland zählt neben China, Südkorea und den USA zu den vier größten Märkten. Der weltweite Umsatz des E-Sport-Markts, welcher Einnahmen aus den Bereichen Sponsoring, Tickets, Werbung, Streaming- und Medienrechte sowie Wetten umfasst, wird für das laufende Jahr auf etwa 3,9 Milliarden Euro geschätzt.
Großevents wie das von Red Bull gesponserte Turnier zeigen, welche Relevanz E-Sport in den vergangenen Jahren erlangt hat und was sich Unternehmen verschiedenster Branchen von einem Einstieg in dieses Segment erhoffen. Wer im Velodrom nah an der Bühne sitzt, kann deutlich das angestrengte Klicken und Klackern des Gaming-Equipments hören.
Eine Gaming-Tastatur kostet circa 200 Euro und ist mit mechanisch gefederten Tasten für hohe Belastungen und kürzeste Reaktionszeiten optimiert. Hinzu kommen: Maus, Headset, Bildschirm und natürlich ein Computer mit Hardware der neuesten Generation. Alles zusammen kann leicht mehrere Tausend Euro kosten.
Immer wieder schwillt die Stimmung an, wenn der Lebensbalken eines Champions bedrohlich abnimmt, bis die Halle bei einem „Kill“ laut jubelt. Nach wenigen Minuten gibt es den ersten Applaus für das Team von Eintracht Spandau, begleitet von hörbaren Trommeln und Fangesängen im Saal. Spannung und Stimmung bleiben durchweg hoch, am Ende verliert das Team aber gegen die Konkurrenten aus Berlin. Die Chance auf das große Duell gegen die Stars aus Südkorea ist dahin. Dennoch skandiert die Fankurve aus etwa 30 Spandau-Anhängern hörbar: „Eintracht Spandau olé!“
So leicht lässt sich der Verein schließlich nicht unterkriegen, und schon kurz darauf geht es anders sportlich weiter. Im Januar 2024 sitzt Max Knabe erneut als Vereinspräsident vor der Kamera und verkündet in gestelztem Deutsch, „mit sofortiger Wirkung“ werde die Sektion „Eintracht Spandau Fußball“ gegründet.
Wenige Minuten später schüttelt der fiktive Vereinspräsident Knabe dem echten Ex-Fußballprofi Hans Sarpei die Hand und stellt diesen als sportlichen Leiter vor. Was hier unterhaltsam präsentiert wird, ist erneut alles andere als ein Witz: Eintracht Spandau dürfte der erste deutsche E-Sport-Verein sein, der in den analog gespielten Fußball einsteigt.
Andersherum ist das die Regel: Schalke 04, der VfL Wolfsburg, Hertha BSC, RB Leipzig – alle diese Vereine haben seit einigen Jahren eine eigene E-Sport-Division. Ab der Saison 2023 hat die „DFL eSport“ alle Clubs der 1. und 2. Bundesliga dazu verpflichtet, E-Sport-Abteilungen zu gründen. Gespielt wird dort vor allem der Fußballsimulator Fifa. Man erhofft sich Zugang zum jungen, zockenden Publikum.
Jetzt auch noch Baller League
Nun steigt Eintracht Spandau in die Baller League ein, eine Hallenfußball-Liga, die 2024 von den Fußballprofis Lukas Podolski und Mats Hummels gegründet wurde. Die Kooperation mit Hans Sarpei, dem deutsch-ghanaischen Verteidiger, um den sich 2010 nach seinem Wechsel zu Schalke ein kleiner Internet-Kult bildete, passt zum Image von Eintracht Spandau.
Andere setzen ebenfalls auf das Prinzip „Influencer plus Sport“: Comedian und Podcaster Felix Lobrecht sowie Rapper Kontra K managen das Team „Beton Berlin“, Streamer Jens „Knossi“ Knossalla und Fußballprofi Max Kruse führen „Hollywood United“.
Die Fans des Vereins haben nun viel zu tun, denn seit dem Einstieg in die Baller League fahren sie zweigleisig. Einer, der beim Streaming im Spandauer Bock fast immer mit dabei ist, hört auf den Namen „Tiger“.
Der 32-jährige gebürtige Spandauer singt regelmäßig die Hymne vor, fiebert bei den Spielen mit, koordiniert Fan-Aktionen. Wie kam es dazu? „Ich bin 32, und damit genau in dem Alter, in dem man mit Computerspielen groß geworden ist“, kommentiert er am Telefon.
Die ersten Spiele schaute er noch mit fünf Leuten in der Kneipe – einen fest installierten Bildschirm gab es da noch nicht, die Fans brachten einen Laptop mit. Wenn die Saison läuft, verbringt er zwei bis drei Stunden die Woche mit dem Fan-Dasein, neben seinem Beruf als Gewerkschaftssekretär. Und natürlich spielt er selbst.
Wer den kräftigen Mann in seiner Jeansweste mit dem roten Stück Stadtmauer des Eintracht-Logos auf dem Rücken sieht, käme leicht auf die Idee, es mit einem waschechten Fußballfan zu tun zu haben, aber seine Leidenschaft gilt dem E-Sport. Dass die Baller League stark Influencer-getrieben ist, findet er „fragwürdig“, aber:
„Es hat die Reichweite von Eintracht Spandau definitiv vergrößert, etwa 30 Prozent der Fans kommen aus dem Baller-League-Umfeld.“ Und das zählt: „Je weiter wir verbreiten können, dass es hier so etwas gibt, desto besser.“
Ampel will gemeinnützigen E-Sport
Die Frage, ob E-Sport eigentlich „richtiger“ Sport ist, beschäftigte bereits die Bundespolitik. Im aktuellen Koalitionsvertrag steht der Satz: „Wir […] machen E-Sport gemeinnützig.“ Damit wäre ein wichtiger Schritt getan, um den digitalen Sport auf die gleiche Stufe wie traditionelle Sportvereine zu stellen.
Ein Beispiel: Viele deutsche E-Sport-Teams beschäftigen Profispieler*innen aus dem Ausland, anders als im anerkannten Sport haben diese aber keine Möglichkeit, ein Sportlervisum zu beantragen. Umgesetzt wurden die Versprechen im Koalitionsvertrag bislang nicht.
Auch der Deutsche Olympische Sportbund (DOSB) hat 2018 ein Positionspapier verabschiedet, laut dem er E-Sport vor allem wegen der fehlenden Gemeinnützigkeit nicht allgemein als „Sport“ anerkennen will. Nur die „virtuellen Sportarten“, also etwa der Fußballsimulator Fifa, seien „anschlussfähig an die Vereine und Verbände des organisierten Sports“, so der DOSB.
Insbesondere mit Spielen, in denen Gewalt eine Rolle spielt, will der Bund nichts zu tun haben, wenngleich Shooter wie Counter-Strike mit über 10.000 Profispieler*innen weltweit zu den beliebtesten E-Sport-Games zählen.
Von derlei Kämpfen um Deutungshoheit lassen sich die Fans von Eintracht Spandau nicht die Stimmung vermiesen. Zurück in den „Spandauer Bock“, April 2024, Play-offs, Viertelfinale: Der Verein könnte heute einen großen Schritt in Richtung Meistertitel und internationale Qualifizierung machen. Auf dem Bildschirm sind Max „Hänno“ Knabe und sein Vereinskollege Daniel „Broeki“ Broekmann zu sehen.
Sie befinden sich nur wenige hundert Meter von der Kneipe entfernt in ihrem Studio und kommentieren für die nächsten drei Stunden das Spiel, inklusive Vor- und Nachberichterstattung. Seine komödiantische Rolle als „Präsident Knabe“ hat Hänno heute abgelegt, vielmehr bespricht er mit einigem Ernst die Aufstellung der Gegner und die Chancen für die Eintracht.
Gute Stimmung im „Bock“
Gespielt wird gegen das Team „Austrian Force“, eine österreichische Mannschaft, die noch neu in der Liga ist. „Entsprechend müssen wir ihnen heute mal zeigen, dass man als neuer Mitstreiter in der Prime League sich auch erst mal ein bisschen bücken muss“, kommentiert Hannö süffisant.
„Als Traditionsverein ist das auch unsere Aufgabe“, ergänzt Broeki. Nur Spaß, freilich. Gegnerschaften im E-Sport, sowohl unter Vereinen als auch Fans, sind in der Regel mehr Show als alles andere.
Derweil wird es laut im Spandauer Bock: „Aufstehen!“, in der Kneipe erhebt sich jeder. Tiger, dessen Stimmvolumen problemlos mit dem traditioneller Fußball-Ultras mithalten kann, stimmt die Hymne an. Dann beginnt das Spiel.
Einige Fans, die etwas weiter hinten im Raum sitzen, schauen den Stream zusätzlich auf ihrem Smartphone, um kein Detail zu verpassen. Ein Tablett mit Tequila wird gereicht. Die Stimmung ist gut. Nach knapp 30 Minuten gewinnt Eintracht Spandau die erste Runde.
Beim Beginn der zweiten Runde klingt die Hymne schon energischer, der Rauch im „Bock“ ist etwas dicker. „Wie lang kann man so zocken, bis man sich den Rücken kaputt gemacht hat?“, fragt ein Fan mit Blick auf den Spandauer Spieler Max Rassi alias „Vertigo“, der grundsätzlich mit angewinkelten Knien vor dem Bildschirm sitzt.
„Ich geb ihm noch zwei Jahre“, entgegnet ein anderer Freund der Eintracht, in der Hand ein fast leeres Bier. Klischees über unsportliche Gamer*innen halten sich hartnäckig, tatsächlich haben aber viele E-Sportler*innen ein Fitness- und Ernährungsprogramm. Das Potenzial haben auch Versicherer erkannt: Die Techniker Krankenkasse sponsert bereits seit 2019 E-Sport-Ligen.
Nach 90 Minuten, vielen Olés und Getränken ist klar: Eintracht Spandau gewinnt 3:0, steht im Halbfinale und hat eine realistische Chance, sich für den Europapokal zu qualifizieren. Im „Bock“ wird sich noch mal zugeprostet, dann die Hymne gesungen. Von zehn Mannschaften in der Liga sind jetzt nur noch drei übrig.
Struktureller Männerüberschuss
Während in der Fankneipe auch Frauen Gefallen an den Spielen der Eintracht finden, besteht die Liga selbst mitsamt ihren Teams fast ausschließlich aus Männern. Und das obwohl es eine strikte, strukturelle Geschlechtertrennung, wie sie im traditionellen Sport üblich ist, im E-Sport nicht gibt.
Jana Möglich hat unter anderem ihre Bachelor- und Masterarbeit zu den Themen „Female Gaming“ und „Geschlechtertrennung im E-Sport“ geschrieben und beschäftigt sich forschend mit staatlichen E-Sport-Förderungen.
Zur Geschlechterungleichheit sagt sie: „Das fängt bereits bei der Erziehung an, wenn es darum geht, Hobbys zu fördern von Jungs und Mädchen. In den Interviews, die ich in verschiedenen Kontexten mit Spielerinnen geführt habe, gaben die meisten der Mädchen und Frauen an, über den Bruder, den Freund oder den Vater zum Gaming gekommen zu sein, also immer über einen männlichen Faktor.“
Schon seit Längerem versuchen Entwicklerstudios, Publisher und andere Akteure aus der Videospielbranche, Gaming für Frauen attraktiver zu gestalten. Mit einigem Erfolg: Jüngeren Studien zufolge ist das Geschlechterverhältnis unter Hobby-Gamer*innen mittlerweile nahezu ausgeglichen. In professionellen E-Sport-Teams sind Frauen aber trotzdem eine Seltenheit.
Unter den 500 bestverdienenden E-Sportlern, welche das Portal „Esports Earnings“ listet, befindet sich keine einzige Frau. Die Gesamtverdienste rangieren von 7 Millionen bis knapp unter 500.000 US-Dollar.
„Diese Ungleichheiten sind vorrangig systematisch bedingt, und Systeme zu ändern – das dauert halt“, sagt Jana Möglich, „aber es gibt ein paar Leuchtturmprojekte, die heutzutage zeigen, dass die Geschlechterdiversitätsförderung wirklich ernst gemeint ist.“
Das US-amerikanische Unternehmen Riot Games, das League of Legends entwickelt hat, versuchte bereits mit verschiedenen Methoden, Frauen das professionelle Gaming nahezubringen. Ein Ansatz: rein weibliche Veranstaltungsformate, die Teilnehmerinnen ermutigen und vor Sexismus schützen sollten. „Das große Ziel sollte natürlich sein, dass alle miteinander spielen und nicht exklusive Events stattfinden“, sagt Jana Möglich.
Alle miteinander spielen sie derweil auch in Spandau. Nur zwei Tage später findet bereits das Halbfinale statt. Gegen das deutsche Team NNO (No Need Orga) läuft es anfangs nicht ganz so geschmeidig. Drei Siegpunkte braucht es für den Einzug ins Finale, doch die ersten zwei Runden verliert die Eintracht. Weiterkommen kann der Verein jetzt also nur noch, wenn er drei Runden in Folge gewinnt. „Ich will, dass ihr jetzt mal alle richtig in die Tasten haut“, ruft Max Knabe in dem Stream, wissend, dass ihn zwar die Tausende Live-Zuschauer*innen inklusive der Fans im „Bock“ hören können, nicht aber das Team selbst.
Die Mannschaft ist dafür hochkonzentriert. Wie an jedem Spieltag haben die fünf Spieler heute schon viel Zeit miteinander verbracht, mit ihrem Coach die Taktik besprochen, vergangene Spiele analysiert, Trainingsspiele gegen eine andere Mannschaft („Scrim“) absolviert und eine gesunde Mahlzeit vom eigens angestellten Koch serviert bekommen. Während der laufenden Saison spielen sie täglich mehrere Stunden.
Einer der Spieler ist der 26-jährige Tristan Schrage alias „PowerOfEvil“ aus dem hessischen Bad Soden. Er spielt erst seit 2023 bei Eintracht Spandau, wurde – ganz wie im Fußball – von einem anderen Team angeworben und unter Vertrag genommen. Als Einziger hat er schon an den „Worlds“, der League-of-Legends-Weltmeisterschaft, teilgenommen und stand beim US-Top-Team SoloMid unter Vertrag.
„So sehen Sieger aus“
Damit gilt er als derzeit stärkster Spieler im Kader und zeigt das heute auch: Nach fast vier Stunden holen die Berliner einen 0:2-Rückstand auf – und stehen schließlich mit dem Ergebnis 3:2 im Finale.
Im Stream sieht man fünf junge Männer, die sich energisch die Headsets vom Kopf reißen, von ihren Stühlen stürmen und sich bald darauf in den Armen liegen. Nebenan ist die Freude ebenfalls riesig: Im „Bock“ springen die Fans. Nun geht es Schlag auf Schlag: Das Finale findet eine Woche später statt. Nach einer eher schleppend begonnenen Saison könnte Eintracht Spandau dann den ersten Titel gewinnen.
Der Pokal für den Gewinn der Prime League ist eine eher grotesk wirkende Skulptur: kein richtiger Kelch, eher eine aus vergoldeten, langen Zacken bestehende, etwa ellenhohe Plastik mit einem blauen, kristallartigen Kern. Der Trophäe, die aussieht, als könne man sich damit bei falschem Gebrauch erheblich verletzen, beschied Kommentator Hänno im Vorfeld eine Ähnlichkeit mit einer „Analsonde“ und beschwerte sich scherzhaft, dass man daraus nicht gut „saufen“ könne.
Aber das ist jetzt egal. „So sehen Sieger aus“, schallt es am 12. April 2024 durch die Spandauer Altstadt. Die Sonne ist schon lange untergegangen, aber die Fans und das Team wagen noch einen lautstarken Marsch durch die sonst eher ruhige Fußgängerzone.
Nach einem packenden, knapp vierstündigen Match gegen das Team SKP hat Eintracht Spandau die Prime League gewonnen und darf sich fortan Deutscher Meister nennen. Der Pokal steht praktischerweise gleich nebenan, im Studio der E-Sports-Marketingagentur „Freaks 4U Gaming“ auf der anderen Seite der Havel.
Nun muss Christian Baltes, der unterdessen Co-Geschäftsführer geworden ist, liefern. Wenn Eintracht Spandau Meister würde, meinte er einmal, springe er in die Havel. Und das tut er dann auch, unter grölendem Applaus, kopfüber in das frühlingsfrische Berliner Fließgewässer.
Der „Bock“ schließt um 0 Uhr, da sind die Fans mit dem Feiern aber noch nicht fertig. Irgendein Lokal wird sie noch rein- und ein paar Mal ihre Hymne singen lassen.
Eine Woche später zieht Eintracht Spandau in die EMEA Masters ein – und gewinnt wenig später auch den Europapokal erstmalig. Geradezu überrascht vom Erfolg organisieren die Fans am letzten Aprilsonntag in der Spandauer Altstadt eilig ein Public Viewing, am Abend schaut dort der Bezirksbürgermeister persönlich vorbei und gratuliert zum Double. „Von Berlin aus jwd“ – so wahr wie jetzt war diese Zeile nie.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Ungelöstes Problem der Erneuerbaren
Ein November voller Dunkelflauten
Abschiebung von Pflegekräften
Grenzenlose Dummheit
Autobranche in der Krise
Kaum einer will die E-Autos
Bürgergeld-Empfänger:innen erzählen
„Die Selbstzweifel sind gewachsen“
113 Erstunterzeichnende
Abgeordnete reichen AfD-Verbotsantrag im Bundestag ein
Trumps Personalentscheidungen
Kabinett ohne Erwachsene